Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
irgendein Getränk. Als der kleine Beutel auf sie zuflog und sie die Arme hochriss, hörte sie ihn zischen: »Nazi-Schlampe!«
Ein Mädchen fühlte sich offenbar ermutigt zu schreien: »Genau! Rassistensau! Dein Macker ist ein Mörder!«
Charlotte starrte sie nur an. Die Tüte hatte sie am Arm getroffen und ihr klebrig-rotes Zeug ins Gesicht gespritzt. »Aber – ich …«
»Willst du uns jetzt auch umbringen?« Der Junge warf erneut etwas nach ihr. Diesmal war es härter und grün und wirbelte durch die Luft – eine Bierflasche. Wie die, mit der Anthony Johnson getötet worden war. Charlotte duckte sich, und die Flasche zerplatzte auf dem Gehsteig, und von Panik gepackt machte Charlotte kehrt und rannte los, und ihre lächerlichen Lebensmittel raschelten in der dünnen Plastiktüte hin und her. Daheim angelangt, verriegelte sie sofort die Wohnungstür hinter sich und rutschte keuchend daran hinab. Schmieriges Zeug rann ihr übers Gesicht.
Die Sache mit ihrem Haar gab ihr den Rest. Sie hatte sehr schönes Haar, das sagten alle. Und es war jetzt der Abend vor dem Tag, an dem sie hätte heiraten sollen, und statt einer Pflegespülung hatte sie leuchtend roten Glibber drin. Das war einfach zu viel, das war unerträglich.
Keisha
Keishas Mutter wohnte in Gospel Oak, seit sie im ungewöhnlichen Alter von fünfunddreißig Jahren von einem geheimnisvollen Weißen schwanger geworden war. Mercy war damals mit einem Studienplatz an der London University und großen Zukunftsplänen aus Jamaika gekommen, doch von alldem war dann nicht allzu viel übrig geblieben. Keisha nahm an, ihre Mutter mochte die Gegend wegen ihres Namens, weil sie dabei an Matthäus, Markus, Lukas, Johannes und die anderen Typen dachte. Mercy stach hervor. Wie ein großes Schiff, das sich bei jedem langsamen Schritt hin- und herneigte. Kein Mensch war jemals so langsam gegangen wie Mercy, wenn sie die Straße hinabschlurfte und bei jeder Okraschote, bei jeder Kochbanane stehen blieb.
Keisha versuchte nicht mal, sie anzurufen – ihre Mutter hatte keinen Festnetzanschluss, von einem Handy ganz zu schweigen. Wenn sie Anrufe erledigen musste, ging sie zu einer Telefonzelle, kramte umständlich nach Kleingeld und hielt jedermann auf. Keisha nahm einfach den Bus, versuchte, ihn mit ihrer Willenskraft dazu zu bringen, so schnell wie möglich zu fahren, und hielt sich an der Haltestange fest. Wenn sie sich nicht hinsetzte, ging’s ja vielleicht schneller. Doch dann stiegen viele Leute ein, und ein alter Mann versuchte, sie mit Blicken zu töten. »Kann ich mal bitte vorbei?«
»Keine Ahnung. Können Sie?« Keisha hatte ein freches Mundwerk. Das brachte sie immer wieder in Schwierigkeiten, aber sie lernte einfach nicht dazu.
Endlich hielt der Bus auf die lahmste nur mögliche Art an der Haltestelle, und sie stieg aus, drängelte sich an alten Damen und Kinderwagen vorbei und lief die Straße ihrer Mutter hinab. Deshalb trug sie immer Turnschuhe: weil man nie wusste, wann man mal einen Sprint einlegen musste.
Bei dem kleinen Reihenhaus angelangt, klapperte sie mit dem Briefschlitzdeckel. »Mum! Mum! Bist du da?« Wo konnte Mercy um diese Uhrzeit sein? Entweder daheim vor der Glotze, eine offene Schachtel Maryland-Gebäck in Reichweite, oder in der Kirche oder in einem Lebensmittelladen, Nachschub holen. Keisha hatte zwar einen Schlüssel zu diesem Haus, aber den hatte sie in ihrer Wohnung zurückgelassen, versteckt in einem Becher ganz hinten in einem Küchenschrank. Da würde Chris nie suchen, oder? Und wenn doch, würde er nicht wissen, wozu dieser Schlüssel gehörte. Nein, auf keinen Fall.
»Mum!« Sie klapperte noch lauter. Durch die Gardinen sah es im Haus aus wie immer: aufgeräumt und dunkel; erfüllt vom Geruch alter Möbel und von Küchendünsten.
Keisha hörte ein Klicken, und dann öffnete sich die Tür des Nachbarhauses einen Spalt breit. Mrs Suntharalingam spähte hinter ihrer Türkette hervor. Sie stammte aus Sri Lanka und trug eine riesige Brille, wie Deirdre aus Coronation Street . »Du hier?«
Mrs S und sie waren einander nicht grün – seit dem Tag, als Keisha eine Ladung Alkopops über ihre Gartenmauer gereihert hatte, auf irgendwelche blöden violetten Blumen, die daraufhin anscheinend eingegangen waren. Mercy lehnte sich immer auf den Gartenzaun hinterm Haus und heulte sich bei ihrer Nachbarin über Keisha aus, bla, bla, bla, kann sich nicht mal um ihr eigenes Kind kümmern, hat einen total unmöglichen Freund, ist von der guten
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