Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
Schule geflogen, jobbt jetzt in einem Pflegeheim. Die Suntharalingams waren natürlich alle Steuerberater oder Ärzte und wohnten in protzigen Häusern in Wandsworth.
»Wo ist Mum?«
»Seit Tagen versuchen wir, dich telefonisch zu erreichen! Das ganze Wochenende!« Die Kette rasselte.
»Was? Mich hat keiner angerufen.« Sie suchte in ihrer Tasche herum, blieb mit den Fingern an den Stellen hängen, wo Chris sie aufgerissen hatte. Ihr Handy hatte seit Tagen nicht geklingelt.
»Kein Anschluss unter dieser Nummer, hieß es da nur immer. Wir haben es wieder und wieder versucht.«
»Was? Ach du Scheiße.« Das Display zeigte nichts an. Kein Netz. »Dieser verdammte Scheißkerl!« Natürlich: Er hatte ihr Handy sperren lassen! Mrs S äußerte ihr Missfallen mit schmatzenden Lauten. »Und wo ist sie jetzt?«, fragte Keisha.
Mrs S setzte einen Gesichtsausdruck auf, der zugleich Triumph und Abscheu enthielt. »Sie ist im Krankenhaus. Ihr Herz …«
»Was? Sie hatte einen Herzinfarkt? O Gott! Wie geht es ihr?«
Mrs S wedelte hinter der immer noch mit einer Kette gesicherten Tür mit den Händen. »Sehr schlecht, o ja, sehr schlecht. Wir haben immer wieder bei dir angerufen. Nachdem er vorbeigekommen war, hat sie nur noch geweint und geweint. Dann hat sie plötzlich gejapst und sich an die Brust gefasst und ihre Samosas auf den Teppich gekippt. Oh, Mrs Suntharalingam, hat sie gesagt.«
»Ich versteh das nicht. Wer ist vorbeigekommen? Wovon reden Sie?«
»Der Junge, du freches Ding. Der böse Junge. Dein böser Junge.«
»Mein – ach du Scheiße. Meinen Sie etwa Chris? Rubys Vater?«
»Ja, ja, der böse Junge. Hat sie sehr aufgeregt. Sie hat geweint und geweint, und dann das.«
»Ach du Scheiße.« Keisha rüttelte an der Türklinke. »Wo ist Ruby? Mrs S, bitte, bitte, wo ist sie? Hat er sie etwa mitgenommen?« Ach du Scheiße, ach du Scheiße!
»Eine Dame hat sie abgeholt. Ich kann sie nicht hierbehalten, ich hab doch Arthritis.« Hinter dem Mattglas kam eine knotige Hand hervor.
»Sie meinen die Sozialarbeiterin?« Scheiße. Na ja. Immer noch besser als Chris. »Und wo ist Mum jetzt?«
»Im Krankenhaus.«
»In welchem?« Dumme Kuh.
Mrs S schniefte und zeigte in Richtung Hampstead. »In dem da, im Royal Free.«
Keisha rannte wieder los, konnte Mrs S gerade noch murmeln hören: »Freches Ding, eine Ausdrucksweise hat die …«
Charlotte
Es musste etwas geschehen, das war offensichtlich. So konnte es nicht weitergehen. Am Morgen des Tages, an dem ihre Hochzeit hätte stattfinden sollen, schlief Charlotte, so lange sie nur konnte, stand zwischendurch sogar auf, um eine alte Flugzeug-Schlafmaske aus ihrer Kommode hervorzukramen, wobei sie sich einen Zeh stieß und »Scheiße!« schrie. Doch dann wurde sie davon wach, dass bei ihr Sturm geklingelt wurde, und sie trottete durchs Wohnzimmer zur Sprechanlage, und da erst fiel ihr wieder ein, was am Abend zuvor geschehen war. Vier Haarwäschen schienen das klebrige Zeug herausgespült zu haben; ihr Haar war immer noch ein wenig feucht.
»Charlotte? Hier ist Mrs Lyndhurst aus Nummer zwei. Kommen Sie bitte runter in die Lobby.«
»Aber …«
»Sofort bitte.«
Die alte Schachtel! Charlotte stapfte im Schlafanzug die Treppe hinab, zu dem kleinen Menschenauflauf, der sich am Hauseingang gebildet hatte. Mrs Lyndhurst, Mike und Susie von unten, mit ihrem makellosen Baby in einem Tragetuch, und der seltsame Nerd, der mit einer Million DVDs im Souterrain hauste.
Mike ergriff das Wort. »Tut mir leid, Charlotte, aber wir glauben, das richtet sich gegen euch.« Er wand sich förmlich vor Mittelschichts-Unbehagen.
»Wir machen uns Sorgen, verstehst du, wegen Harry«, sagte Susie in vollem Ernst und verlagerte das Baby ein wenig. Charlotte wurde wieder mal daran erinnert, wie nervig sie sie fand.
Auf die Eingangsstufe hatte jemand mit roter Farbe MÖRDER geschmiert. »Oh.« Charlotte hielt inne und sah es sich an und ließ sich dann unwillkürlich in ihrem pinken Schlafanzug auf der Eingangstreppe nieder. Sie war barfuß, und der Boden war kalt.
Mrs Lyndhurst seufzte. »Also wirklich. Ich wollte gerade einkaufen gehen. Darum sollte sich jemand kümmern.« Dann ging sie, und Mike sagte, Susie und er müssten mit Harry zur Krabbelgruppe.
»Tut mir leid«, sagte er jämmerlich. »Du solltest wirklich die Polizei rufen.«
»Komm«, kommandierte Susie und brachte ihr Baby schnell vor Charlottes verderblichem Einfluss in Sicherheit.
Der Typ aus dem Souterrain machte sich
Weitere Kostenlose Bücher