Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
zusammenzustellen, in dem sie hübsch aussah, aber nicht nuttig und auch nicht zu wohlhabend – sie nahm nicht an, dass in diesem Gefängnis allzu viele Banker einsaßen.
Ihr Vater reiste bereits wieder ab. Stephanie wolle mit ihm daheim auf eine Kunstmesse, erläuterte er. Zuvor hatte er Charlotte an dem Abend, der ihr Hochzeitsabend hätte sein sollen, zum Essen ausgeführt. Ein nobles Essen war zwar das Letzte, wonach ihr der Sinn stand, aber so war er nun mal: Gab sein Geld am liebsten dort aus, wo es am meisten hermachte, und tat, als bereite es ihm Vergnügen, Leber und Wachteleier zu verspeisen, wo sie doch wusste, dass früher Pie & Chips sein Lieblingsgericht gewesen war.
Er ließ sich lang und breit darüber aus, was für eine Schande es sei, dass man sich geweigert hatte, ihm das Flugticket zu erstatten, und dass er deshalb beschlossen hatte, dennoch zu kommen. Und was für ein Glück es sei, dass er den Vormittag mit seinem Broker hatte verbringen können, so dass sich die Reise nun doch nicht als vollkommene Zeitverschwendung herausgestellt habe. Charlotte war von der Foie gras, die sie schon im Magen hatte, zu benommen, um sich aufzuregen. Sie dachte nur: Jetzt hätten wir an der Hochzeitstafel Platz genommen. Und jetzt hätten wir den Ansprachen gelauscht.
Ihr Vater hatte Brandys bestellt und über die Finanzkrise gesprochen. »Ich habe immer schon gesagt, dass in den Banken zu wenig Disziplin herrscht. Kein Wunder, dass immer wieder behauptet wird, die hätten zu viel Stress bei der Arbeit. Stress! Die wissen doch gar nicht, was das ist. Schmeckt dir dein Dinner nicht, Charlotte?«
Sie hätte ihm sagen sollen, wenn er wirklich als vornehm gelten wolle, hieße das Supper , nicht Dinner. »Oh, ich bin nur ein bisschen langsam.« Sie versuchte noch einen Bissen.
»Da sich diese ganze Sache mit der Hochzeit jetzt erledigt hat, solltest du dir vielleicht mal überlegen, ob der Ferne Osten nicht auch was für dich wäre. Es gibt da viele Möglichkeiten.«
Sie legte die Gabel nieder. »Dan wurde noch nicht mal vor Gericht gestellt, Dad.«
»Es kann nicht schaden, ein wenig vorauszuplanen.«
Dan konnte so gut mit ihrem Vater umgehen, hörte sich geduldig seine überspannten Ansichten an und ließ sich von ihm bereitwillig Vorträge halten über Autos und Wein.
»Dad, er braucht einen Anwalt. Könntest du … Weißt du, wie man so was macht? Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll, und das Geld …«
Er verstand sie falsch. Absichtlich? »Natürlich braucht er einen Anwalt. War sein Vater nicht früher ein hochrangiger Richter? Der kann dir da bestimmt weiterhelfen.«
Jetzt hätte er die Ansprache des Brautvaters gehalten , dachte Charlotte. Sie hatte ihn nur um der Tradition willen darum gebeten, und jetzt, da ihr Verlobter seit nicht einmal einer Woche hinter Gittern saß, drängte er sie doch tatsächlich, außer Landes zu gehen. »Verzeihung.« Sie ging, so langsam sie nur konnte, durch das Restaurant, rannte dann auf die Damentoilette und erbrach in zwei lautstarken Schwällen den Brandy, die Taube und die Gänseleberpastete. Dann wischte sie sich das Gesicht ab, schaute in den Spiegel und sah ihre geschwollene Lippe, an der die Stiche noch zu erkennen waren, und das schwarz-grüne Auge, von Tränen gerötet. Ihre Zunge tastete über die noch frische Zahnlücke, und wieder fragte sie sich: Was geschieht mit mir?
Warum sich aufregen?, hatte Dan gelegentlich gesagt. Die Leute ändern sich ja eh nicht. In so vieler Hinsicht war ihr Vater, Jonathan Miller, immer noch derselbe Mann, der sie an dem Tag, an dem er verschwunden war, abgeschüttelt hatte, als sie sich an sein Bein klammerte. Sie war damals acht Jahre alt gewesen, und bis zum gestrigen Tag war es das letzte Mal gewesen, dass sie vor ihm geweint hatte – als er ihr zwanzig Jahre zuvor gesagt hatte, dass er mit einer holländischen Börsenmaklerin namens Stephanie in ein Land namens Singapur ziehen und leider zu ihrer Geburtstagsfeier nicht zurück sein werde. Das war bis dahin der schlimmste Tag ihres Lebens gewesen.
Schließlich gab sie ihre Bemühungen auf, das passende Outfit für den Gefängnisbesuch beim Verlobten zu finden, und beließ es bei Jeans. Denn letztlich war das ja alles vollkommen belanglos.
Als sie durch die stillen Sonntagsstraßen ging, revoltierte ihr Magen vor Nervosität, wie vor einem Bewerbungsgespräch, kombiniert mit einem Auftritt vor großem Publikum. Sie hatten die Sonntage immer geliebt – es waren
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