Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
dann wurde Musik aufgedreht – ein R-’n’-B-Song, total surreal. Sechs schwarze Männer trugen den Sarg herein. Dahinter kamen die Frauen, mit altmodischen Schleiern vorm Gesicht. Keisha erkannte Rachel Johnson, die auf der Toilette die Blonde zusammengetreten hatte. Der Sarg wurde vor dem Altar abgestellt. Darin lag Anthony Johnson, den Keisha zuletzt gesehen hatte, wie er, mit einem glänzenden Anzug bekleidet, einem Mädel am Po rumgetatscht hatte. Jetzt war er tot, die Kehle aufgeschlitzt, verblutet. Keisha schauderte, und der Geistliche forderte die »Brüder und Schwestern« auf, sich zu erheben.
Hinterher trottete Keisha zurück zum Royal Free Hospital. Sie hatte es geschafft, den Gottesdienst zu verlassen, ohne allzu vielen Leuten die Hand schütteln zu müssen. Der Geistliche hatte sie abgefangen und genötigt, kurz mit Anthony Johnsons Mutter zu reden, die den gleichen überkandidelten Tonfall am Leibe hatte wie Keishas Mutter auch. »Mercys Kind«, sagte sie und zog Keisha in eine muffig riechende Umarmung. »Bete für uns, mein Kind.«
»Mein aufrichtiges Beileid«, murmelte sie und hatte dabei den Verstorbenen vor Augen, mit seinem glitzernden Ohrring und dem breiten Lächeln.
Verdammte Scheiße, war das peinlich gewesen: das ganze Gesinge und Händchengehalte und Augenzugekneife, um darum zu beten, dass die Seele von Anthony Johnson in den Himmel aufsteigen möge. Und das, wo er doch, soweit Keisha das beurteilen konnte, genauso eine verlogene, rumhurende Drecksau gewesen war wie die meisten anderen Männer auch. Beim Krankenhaus angelangt passierte sie mit solcher Selbstverständlichkeit die Pendeltüren, als wäre sie dort jetzt schon zu Hause. Sie wusste ganz genau, welchen Korridor sie hinabgehen musste, um zur Frauen-Chirurgie zu gelangen. Sie wusste ganz genau, in welchem Bett ihre Mutter lag – wahrscheinlich so heftig schnarchend, dass ihre massige Gestalt unter der Bettdecke bebte.
Aber sie war nicht da.
Keisha drehte den Kopf hin und her, wie irgend so ein Schwachkopf im Fernsehen. Hä? Wo steckte sie? Das Bett war leer und frisch bezogen, als hätte Mercy nie darin gelegen. Ihre Bibel und ihre Taschentücher waren fort, der Nachttisch frisch geputzt. Kurz glaubte Keisha, sie hätte sich in der Station geirrt.
Da kam eine blau gekleidete Schwester in Sicht; es war die mütterliche Irin, die sich jedes Mal bekreuzigte, wenn sie einen Patienten erblickte. »Alles in Ordnung, meine Liebe?«
»Äh, wo ist denn meine Mutter?«
»Wie meinen?«
»Meine Mutter – Mercy Collins. Sie war hier.« Verfickte Scheiße noch mal.
Die Krankenschwester ging schnaufend zum Empfang. Wenn sie bei den Pasteten nicht ein bisschen kürzertrat, würde sie bald auf ihrer eigenen Station landen. Sie wühlte in den Papierstapeln herum. »Wollen wir doch mal sehn. Mrs Collins, ja?«
»Ja.« Das Mrs war eine Lüge, die Mercy sich gestattete. Gott konnte nicht wollen, dass sie der Schande ausgesetzt war, eine Miss zu sein – nicht mit einer fünfundzwanzigjährigen Tochter.
»Ah, ja, genau. Sie hatte heute Morgen einen leichten Anfall, und man hat sie in den OP gebracht.«
»Sie wird immer noch operiert?« Keisha war stundenlang fort gewesen.
Die Schwester starrte weiter in die Papiere. Dann hielt sie plötzlich inne und sah zu Keisha hoch. Für einen Moment verstummte ihr ewiges Geplapper, und sie sagte gar nichts mehr. Keisha bekam ein Gefühl im Magen wie auf der Achterbahn im Thorpe Park. »Wo ist sie?«
Die sonst so schwatzhafte Schwester sah sie nicht mehr an. »Ich hole mal den Doktor.«
Dann ließ sie Keisha auf der stillen Station ganz alleine stehen.
Charlotte
Als Dan hereingeführt wurde, hatte er nach nur einer Woche Haft schon blasse Haut und trockene, blutunterlaufene Augen. Obwohl Untersuchungsgefangene ihre eigene Kleidung tragen durften, hatte er den gleichen grauen Trainingsanzug an wie die anderen Häftlinge auch. Wie die Vergewaltiger und Diebe. Und die Mörder.
Charlotte musste schlucken.
Dan sah ihr nicht in die Augen. Das war das Schockierendste. Im Gegensatz zu Charlotte, die oft schüchtern war, hatte er stets jedem in die Augen sehen können. Wie er einmal gesagt hatte, brachte das die Leute dazu, ihm Abermillionen aus ihrem Privatvermögen anzuvertrauen. Seine Fingernägel waren abgekaut, das sah sie, und am Hals hatte er einen großen roten Pickel. Trotz all der Gefängnisszenen, die sie in hunderten Filmen und Fernsehserienfolgen schon gesehen hatte, war sie dennoch so
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