Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
sähe sie ein Gespenst. »Was machst du denn hier?«
Der Mann sagte: »Tja, die Tickets waren nun mal gebucht, und da dachte ich mir, ich könnte bei der Gelegenheit ein bisschen was Geschäftliches erledigen, und – mein Gott, was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«
Ein erstickter Schluchzer entrang sich ihr, und wieder schossen ihr Tränen in die Augen. »Oh, Daddy. Es ist alles vorbei, alles ist ruiniert.«
Hegarty schloss die Tür hinter den beiden und ging nach Hause, wo er Pro Evolution Soccer spielte und vor dem Fernseher M&S-Korma aß, allein in seiner kleinen Wohnung, während das Sirenengeheul die ganze Nacht kein Ende nahm.
Keisha
Keisha erwachte an einem seltsamen Ort – im Bett ihrer Mutter. Ihr altes Zimmer war inzwischen Rubys, und dort, inmitten all der Sachen ihrer Tochter, hatte sie nicht schlafen wollen.
Ihre Mutter, prüde, wie sie war, hatte ihr aufgeschrieben, was sie von zu Hause brauchte, damit auch ja niemand die Worte »Unterhosen« oder »Nachthemd« aus ihrem Munde hörte. Und obwohl Mercy weder essen noch trinken durfte, bat sie um »ein bisschen was Süßes«.
»Aber klar doch. Der Arzt hat ja auch bloß gesagt, deine Cholesterinwerte wären rekordverdächtig.« Keisha genoss es geradezu, ihre Mutter so zu tadeln. Das gab ihr das Gefühl, eventuell doch eine ganz passable Tochter zu sein, was mal eine nette Abwechslung war, nachdem sie immer diejenige gewesen war, die alles falsch machte. »Die haben gesagt, dass du morgen eine Tasse Tee trinken darfst. Aber mehr nicht.«
Mercy zog einen Schmollmund. »Dann soll ich also elendig verdursten.«
»Du hast doch deinen Tropf!« Irgendwie verstand Keisha, ohne dass man es ihr erklärt hatte, dass der Tropf Flüssigkeit spendete, die damit nicht durch den Magen ging und also, falls eine Operation nötig wurde, auch nicht wieder ausgekotzt werden konnte. »Ich brauche einen Schlüssel, Mum. Meinen habe ich nicht dabei. Ach du Scheiße.« Jetzt fiel es ihr wieder ein: Ihren Schlüssel hatte Chris. Zumindest befand er sich in der Wohnung. Aber vielleicht wusste er ja gar nichts davon. Wenn es den allmächtigen Gott, an den ihre Mutter glaubte, tatsächlich gab, hatte er davon keinen blassen Schimmer.
Mercy war schon wieder halb eingeschlafen. »Deine Ausdrucksweise … In meiner Tasche … Aber mach keine Unordnung. Mach Ruby für die Schule fertig …«
Keisha war kurz davor, es auszusprechen, bremste sich aber. Ruby war nicht mehr da. Sie war wer weiß wohin verschwunden.
Im Haus ihrer Mutter angelangt, verriegelte Keisha die Hintertür und überprüfte sämtliche Fenster. Es gab keinen Grund, weshalb er wiederkommen sollte, oder? Vielleicht wusste er ja schon, dass Ruby jetzt in Pflege war. Und vielleicht würde er versuchen, sie zu finden – aber nein, das war Blödsinn. Chris war viel zu faul, um im Pflegesystem nach einem Kind zu fahnden. Sie musste einfach davon ausgehen, dass Ruby zwar fort, aber in Sicherheit war. Mit dieser Vorstellung schlief sie ein: Ihre Tochter in einem gemütlichen Zimmer, alle Fenster verriegelt, Alarmanlage aktiviert, und vielleicht ein hünenhafter Pflegevater, der ein guter Boxer war …
Am nächsten Morgen packte sie die Sachen für ihre Mutter: Schlüpfer, größer als T-Shirts, ein Nachthemd von den Ausmaßen eines Lakens, ihre Zahnbürste und ihre Bibel. Schließlich noch ein paar Tena-Lady -Einlagen – Keisha warf sie in die Tasche, peinlich berührt bei dem Gedanken, dass ihre Mutter schon Inkontinenz-Einlagen brauchte. Sie war doch gerade mal sechzig.
Als sie das Haus verließ und die kurze Strecke zum Krankenhaus zu Fuß ging, vorbei an den schicken Hampsteader Cafés, setzte sie sich die Kapuze auf und sah sich immer wieder um. Man wusste ja nie, wer einem über den Weg lief, nicht wahr?
Mercy schien es an diesem Tag schon besser zu gehen; zumindest war sie so grantig wie eh und je. »Uh, doch nicht dieses Nachthemd! Darin sehe ich ja aus wie eine alte Frau!«
Keisha sank auf ihrem Plastikstuhl in sich zusammen. »Woher hätte ich das wissen sollen?«
»Die Schwester wird mich heute nicht baden. Wie soll ich denn jetzt bei den Ärzten einen guten Eindruck machen?« Es stimmte: Mercy roch ein bisschen käsig.
»Die haben doch gesagt, du darfst heute aufstehen.«
Sie fuchtelte ungeduldig mit der Hand. »Einer sagt dies, der andere das. Ich will nach Hause. Wo ist meine Kleine?«
»Keine Ahnung. Ich hab gestern bei Sandra bestimmt ’ne Stunde in der Leitung gehangen. Bin
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