Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
die einzigen Tage, an denen Dan seine Arbeit mal beiseitelegte, zumindest bis zum Abend. Die Sonne schien, und die Passanten trugen Tennisschläger mit sich herum oder hatten Babys in Tragetüchern dabei. Die Frauen trugen große Sonnenbrillen, die Männer Polohemden. Und was für einen Schrott sie redeten. Jaspers Prep School … Unser Haus ist heute weniger wert, als wir damals dafür bezahlt haben … Urlaub auf Sardinien … Das war die Mittelschichts-Enklave, in der sie lebte. Nie zuvor hatte sie sich darin so als Außenseiterin gefühlt.
Es war nicht weit – nur die kurze Fahrt nach King’s Cross, wo sie in die Piccadilly Line umstieg. Ja, es ging viel zu schnell, denn bald schon trat sie in Caledonian Road wieder ans blendend helle Tageslicht. Sie war schon mal hier gewesen, mit Dan, um in dem Tenniszentrum die Straße hinauf Trainerstunden zu nehmen, aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Nun ging sie das schäbigere Ende der Straße hinab, vorbei an heruntergekommenen kleinen Läden und Imbisslokalen. Wie oft würde sie künftig hierherkommen müssen? Würde sie das Chicken Cottage besser kennenlernen, als ihr lieb war?
Sie atmete tief durch und setzte einen Fuß vor den anderen. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass sie sich eine Woche zuvor noch Gedanken über ihren Gang vor den Traualtar gemacht hatte. Das ist doch ganz einfach, hatte Dan gesagt, der Hochzeitsthemen überdrüssig. Du gehst einfach einen Schritt und dann den nächsten. Du gehst zu mir, denk dran.
Und nun ging sie tatsächlich zu ihm, doch auf ganz andere Weise, als sie es geplant hatte.
Keisha
Keisha schlich sich geduckt in die Vorhalle. Die Church of Holy Hope war keine schöne Steinkirche, wie man das auf dem Lande sah, sondern ein großes weißes Gebäude mit Transparenten an den Außenwänden, auf denen so Zeugs stand wie Jesus lebt oder Lasst den Herrn in euer Herz hinein . Sachen, an die ihre Mutter so wahrhaftig glaubte wie daran, dass man mit dem Zug von Gospel Oak nach Stratford fahren konnte. Und da es bei Gott nicht ständig zu Streckenbauarbeiten kam, war die Verbindung zu ihm wahrscheinlich erheblich zuverlässiger.
Immer noch in Jeans und Kapuzenpulli huschte sie in die letzte Reihe und zog den Kopf ein, um möglichst nicht aufzufallen. Doch das konnte sie vergessen.
»Willkommen, Schwester!«, sagte ein jovialer schwarzer Geistlicher mit so einem weißen Kragen. »Kommst du das erste Mal zu uns?«
»Ich, äh, bin die Tochter von Mercy. Sie kennen sie doch: Mercy Collins?«
»Schwester Mercy? Oh, herzlich willkommen. Wir haben von ihrer Erkrankung erfahren. Wir schließen sie in unsere Gebete ein.« Breit lächelnd bleckte er ein weißes Gebiss. Seinem Akzent war anzuhören, dass er ein Import war, ein Reimport sozusagen, denn nachdem die Weißen früher den unwissenden Afrikanern ihre Priester geschickt hatten, hockten sie heutzutage sonntags lieber im Pub und waren dazu übergegangen, Afrikaner ins Land zu holen, um die einheimischen Priesterbestände aufzufüllen. Keisha konnte in der ganzen Kirche keinen einzigen Weißen entdecken, und wieder mal war sie sich ihrer hellen Hautfarbe nur allzu bewusst. Manchmal hätte sie am liebsten ein T-Shirt getragen mit dem Aufdruck Ja, ich bin ein Mischling. Ihr könnt aufhören zu glotzen .
»Ist das der Trauergottesdienst?« Sie sah zu der Gruppe vor sich hin jammernder Damen hinüber, die alle Hüte trugen.
»Ja. Was für ein trauriger Tag. Diese Banden, Schwester, töten unsere Söhne. So viele Mitglieder unserer Gemeinde kamen einst nach London, um der Gewalt zu entfliehen. Und jetzt das.«
»Oh, aber ich dachte … Ist er nicht bei einer Schlägerei umgekommen? Anthony, meine ich …« Sie wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Altar, obwohl dort noch kein Sarg stand.
Der Geistliche schüttelte den Kopf. »Das ist nur Gerede. Seine Mutter, die ich gut kenne, hat gebetet und gebetet, dass er sich von den Banden und den Drogen fernhalten möge.« Er seufzte angesichts der nicht enden wollenden Verluste an Menschenleben, der langen Reihe der Särge, geschmückt mit den Farben der diversen Londoner Fußballclubs.
Er tätschelte sie mit seiner trockenen Hand, und sie bemerkte entsetzt, dass ihm die andere Hand fehlte. Der Ärmel war bis zum Ellbogen rauf leer. »Lass den Herrn in dein Herz hinein und sende seine Liebe unserer Schwester Mercy.«
»Äh, okay, wird gemacht.« Sie gab sich Mühe, nicht hinzusehen.
Er zockelte in Richtung Altar davon, und
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