Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
Mund seiner Freundin zu denken und an die Tränen, die auf ihrem Gesicht trockneten.
Er räusperte sich. »Ich komme gleich, Dad.«
In seiner Hosentasche steckte sein Handy, und darauf befand sich die Textnachricht, die Charlotte ihm geschickt hatte, auf den Tag fünf Wochen nach ihrer ersten Begegnung. Hi , stand da. Charlotte Miller. Dürfte ich Sie mal anrufen, wenn Sie frei haben? Ich brauche dringend Ihre Hilfe .
Da war sie also, ihre Textnachricht.
Keine Tippfehler, keine Rechtschreibfehler und keine blöden Kürzel. Für Hegarty war das Schreiben eine ziemliche Plackerei. Er verbrachte Stunden mit dem Abfassen seiner Polizeiberichte, nutzte dabei die Rechtschreibkontrolle und manchmal sogar ein Synonymwörterbuch, um die richtigen Formulierungen zu finden. »Rainman« nannten sie ihn, was irgendwie unfair war, denn Rainman war ja ein Naturgenie. Der hätte kein Wörterbuch gebraucht. Doch noch schwieriger, als zu verhindern, dass ein Spitzname an einem kleben blieb, war nur, sich selbst einen zuzulegen.
Hegarty saß wieder an seinem Schreibtisch in London, immer noch angeschlagen und verkatert von der Hochzeit und der fast noch unangenehmeren Rückfahrt mit Virgin Trains. Er schluckte eifrig Nurofen, trank schon die fünfte Tasse des widerwärtigen Revier-Kaffees und dachte über Charlottes SMS nach. Was hatte das zu bedeuten? Wobei sollte er ihr helfen?
»Na, zurück aus dem Norden, Rainman?« Susan kam ihm so nah, dass er das Käsebrot riechen konnte, das sie zum Frühstück gegessen haben musste.
Er zuckte zusammen. »Schleich dich bitte nicht so an.«
Susan war hartnäckig. »Hast ’nen Kater?« Sie kam noch näher. »Du solltest es wirklich mal mit meinen Präparaten versuchen.«
Susan glaubte fest an die Kraft der Kräuterheilkunde – und an Jesus Christus. Hegarty hatte mit beidem nichts am Hut.
»Ja, ja. Wolltest du irgendwas von mir?«
»Der Chef will dich sprechen.«
Das konnte nichts Gutes bedeuten. Aber der Chef konnte ja unmöglich von Charlottes Textnachricht erfahren haben, oder?
DI Bill Barton rieb sich den Magen, als Hegarty sein Büro betrat, den Blick auf den hohen Aktenstapel vor ihm gerichtet. Hegarty bemerkte eine offene Schachtel Rennie auf seinem Schreibtisch.
»Sie wollten mich sprechen, Sir?«
»Matthew. Hallo.« Aufrichtige Herzlichkeit. »Läuft alles gut? Irgendwelche Probleme?«
»Nein, Sir.« Von einem verheerenden Kater und einer zunehmenden Besessenheit von der Freundin eines Verdächtigen mal abgesehen.
»Es hat einen weiteren Zwischenfall gegeben. Ganz ähnlich wie der im Kingston Town.«
Hegarty starrte ihn an. »Wieder mit einer zerschlagenen Flasche?«
»Nein, diesmal mit einem Messer.« Der Chef hielt sich den Magen und verzog das Gesicht. »Aber ebenfalls ein Mann in einer Bar, dem der Hals aufgeschlitzt wurde. Es heißt, er habe Schulden gehabt. Aber er hatte Glück; jemand war rechtzeitig bei ihm.«
»Nicht tot?«
»Nein. Kann aber vorläufig niemanden identifizieren. Die Spurensicherung ist schon an der Sache dran.«
»Also … Was bedeutet das, Sir?«
»Sie haben ja diesen anderen Zeugen nie gefunden, nicht wahr? Den Weißen auf dem Foto?«
»Aus dem Kingston Town? Nein. Nein, der ist uns durch die Lappen gegangen.« Hegarty seufzte – er konnte ja schlecht erklären, dass er den Mann durchaus identifiziert hatte, im Zuge einer unabgesprochenen Nebenermittlung, dann aber seine Spur verloren hatte. »Meinen Sie … es besteht eventuell die Möglichkeit, dass Stockbridge es gar nicht war?« Auszusprechen, was er schon so lange dachte, raubte ihm fast den Atem.
»Das habe ich nicht gesagt, Matthew. Die Beweislage ist ja, wie Sie es in Ihrem Bericht so treffend formuliert haben, ›geradezu erdrückend‹.« Hegarty errötete ein wenig bei diesem Lob. Langsamer fuhr Barton fort: »Es gibt, wie soll ich sagen … viele Leute, die den Fall Kingston Town abgeschlossen sehen wollen. Rassenkonflikte … Klassenkampf … Das kann London nicht gebrauchen.«
»Nein, Sir. Haben wir eigentlich jemals das Material der anderen Überwachungskamera bekommen, die ich erwähnt hatte? Die von der Reinigung gegenüber dem Kingston Town?«
Der DI sah ihn ausdruckslos an. »Ich bin mir sicher, dass wir allen Ermittlungsansätzen nachgegangen sind, Matthew. Und dabei gleichzeitig auf unsere beschränkten Mittel geachtet haben.«
»Ja, Sir.«
»Aber kümmern Sie sich doch noch mal drum, ja?«
»Soll ich das übernehmen?«
»Ich will, dass Sie die Sache
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