Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
und gab sich große Mühe, bei dem bitteren Geschmack nicht zu würgen.
Seine Onkel – Sean, Paddy und Seamus – schüttelten sich vor Lachen. Sean klopfte ihm auf den Rücken. »Das gibt’s bei euch im Süden nicht, was?«
»Nee.« Vieles gab es im Süden nicht. Beispielsweise Büfetts mit warmen Sausage Rolls von Tesco. Oder drei Tage ununterbrochen darüber zu quatschen, dass es mit dem Zuzug von Ausländern ein Ende haben musste, bevor an jeder Ecke eine Moschee stand. Oder unfassbar scheußliche Popmusik in einer Dauerschleife. Die Vengaboys, um Himmels willen! Hegarty stand am Tresen, wo sich die Männer der Familie versammelt hatten, um sich vor dem Tanzen zu drücken, und sah zu, wie seine Tante Sheila vorbeigeschwoft kam, mit beiden Armen winkend. »Kommt, Jungs! Duh-duh duh-duh du duuuh-du …«
»Stinkbesoffen«, meinte Onkel Paddy, selbst beim zehnten großen Bier.
»Entschuldigt mich.« Hegarty nutzte die Ablenkung zur Flucht, und einer seiner Onkel brüllte: »Nicht weit her mit der Blasenstärke da im Süden, was?«, und er schaffte es gerade noch, nicht von seiner Mutter auf die Tanzfläche gezerrt zu werden. »Komm, Matty, tanz mit deiner Mum!«
»Muss mal schiffen!«, rief er über die Musik hinweg – wenn man das denn so bezeichnen konnte. »Schiffen«, o Gott, er musste schnellstens zurück nach London, sonst fing er auch noch an, »Scheinasylantensozialschmarotzer« zu sagen wie sein Onkel Seamus, alles in einem Wort.
Er schlich hinaus auf die »Seeblick-Terrasse« des Hotels. Hier draußen war die Luft kühl und klar; und nach dem Parfümgestank und Körpergeruch drinnen genoss er das wie einen Schluck Wasser. Der See glitzerte nur wenige Meter entfernt milchweiß im Mondlicht, und die dunklen Gebirgszüge wirkten sehr friedlich – wäre das Getöse der Hegartys nicht gewesen und ihr beschissener Musikgeschmack. »Unsere Nicola« war das erste Mädchen der Familie, das unter die Haube kam – ihre fünfjährige Tochter fungierte als Blumenmädchen –, und die Hegartys machten ein großes Gewese darum. Er hatte nicht kommen wollen, nicht nur, weil er davon ausgegangen war, dass es langweilig, das Essen mies und die Musik sogar noch schlimmer sein würde (all das hatte sich bisher bewahrheitet), sondern auch, weil seine Familie keine Hemmungen hatte, ihn zu fragen: Na, wann ist es denn bei dir so weit? Nicola, die Braut, war dreiundzwanzig. Hegarty war fünf Jahre älter, und seine beiden älteren Brüder waren schon jahrelang verheiratet und hatten insgesamt vier Kinder. Doch bei Matthew Hegarty: nichts. Niemand. Er gab sich Mühe, nicht schon wieder an sie zu denken, und wünschte, er hätte eine Zigarette.
»Hallo, Matty.« Matty. O nein. Außer seiner Mutter nannte nur ein Mensch ihn so. Er wandte sich von der mondbeschienenen Schönheit des Sees ab. »Hallo, Danni.«
Danielle, seine erste Freundin. Und seine letzte, wenn man alles, was nicht mal einen Monat gewährt hatte, nicht mitzählte. Im Halbdunkel sah ihr Gesicht käsig aus. »Alles in Ordnung?«
»Ja, und bei dir?« Er fühlte sich genötigt, sie kurz zu umarmen. Ihr gefiederter Haarschmuck kitzelte ihn im Gesicht. Sie roch wie die anderen Frauen hier auch, nach Pfirsichschnaps und Schweiß. »Gut siehst du aus.« Das musste man auf Hochzeiten zu Frauen sagen, selbst wenn sie sich in ein schulterfreies pinkfarbenes Kleid gezwängt hatten, das eine Konfektionsgröße zu klein für sie war.
Danielle lächelte ein wenig. »Danke. Du auch. Ich hatte gehofft, dass du kommst.«
Er sagte nichts darauf.
»Deine Mutter hat erzählt, es geht dir gut da unten.« Sie sprach von London, als läge es im Ausland. »Fehlt dir das hier gar nicht?« Ihre Kopfbewegung schloss alles ein: den glitzernden See, die Berge, den klaren Sternenhimmel – aber auch die Girls Aloud und die aus wiedergekäuten Sun -Artikeln bestehenden Ansichten seiner Verwandtschaft.
»Doch, manchmal schon. Zumindest die frische Luft.«
»Und deine Familie? Deine alten Freunde?« Sie kam näher. Argh.
»Und wie geht’s dir, Danni? Was macht die Liebe?«
»Ich war ’ne Zeit lang mit Paul zusammen. Du weißt doch: Paul Gregg, aus unserer Schule. Der mit der Star-Wars -Tasche?«
»Ach ja.«
»Aber dann hab ich Schluss gemacht. Ich hab das einfach nicht gespürt, weißt du. Das Prickeln. Wie bei Sex and the City .«
»Aha.« Er hätte sich lieber Nadeln in die Augen gerammt, als sich auch nur eine Folge Sex and the City anzusehen.
»Ich hab gehört, du
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