Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
fliegst zu Toms Hochzeit nach Australien.«
»Ja, das werde ich. Und du?«
»Nee. Nachdem wir beide uns getrennt hatten, hatte ich nicht mehr viel mit ihm zu tun.«
Die Musik wechselte. Robbie Williams, Angels . Hegarty hätte kotzen können, Dannis Gesicht aber hellte sich auf. »Wollen wir tanzen, Matty? Um der alten Zeiten willen?«
Mist. Genau für so was waren Zigaretten doch da. Wieso hatte er das Rauchen bloß aufgegeben? »Gern, beim nächsten Song.«
Bevor sie hineinging, sah sie sich noch mit einem Lächeln zu ihm um. »Du weißt ja, wo du mich findest.«
Er sah ihr nach und erinnerte sich an ihren schlanken Rücken unter dem T-Shirt – in ihrer ersten Disco-Nacht, als sie fünfzehn gewesen waren. Was war bloß los mit ihm? Danielle war eine schöne Frau, auch wenn sie in letzter Zeit ein bisschen zugenommen hatte. Hier gab es jede Menge Mädels, Freundinnen von Nicola, junge Frauen, die er seit Jahren kannte. Er aber fand die eine zu dick, die andere zu dünn und das blonde Haar der Dritten zu offensichtlich gefärbt. Keine von ihnen war wie sie . Das war das Problem.
Er hätte nicht gedacht, dass ihm so etwas mal passieren würde. Die Frauen, denen er bei Festnahmen begegnete, waren normalerweise ziemlich ungehobelt, hatten strähniges Haar und Zahnlücken. Sie schrien ihn an, bewarfen ihn auch schon mal mit Gegenständen. Deshalb war es geradezu ein Schock für ihn gewesen, als er an jenem Morgen in ihre Wohnung geplatzt war und sie im Seiden-Negligé und mit ihrem schönen Haar vor ihm gestanden hatte. Er hatte sich zwar Mühe gegeben, nicht hinzusehen, aber das war gar nicht so einfach gewesen. Und später dann hatte er sie vernommen und ihren Namen auf einem Schriftstück gesehen: Charlotte Miller. Charlotte . Selbst in Jeans und mit müdem, verwirrt blickendem Gesicht war sie noch so hinreißend schön, dass er sich zwingen musste, auf seine Notizen hinabzusehen und daran zu denken, dass es höchstwahrscheinlich ihr Verlobter gewesen war, der diesem Mann in dem Nachtclub die Kehle aufgeschlitzt hatte. Ihm fiel wieder ein, wie sie damals den Diamantring an ihrem dünnen Finger hin und her gedreht hatte, als hätte sie abgenommen, und der Ring wäre ihr jetzt zu groß.
Drinnen bildeten die Familien einen Kreis um Nicola, deren trägerloses Kleid ihre Tätowierungen entblößte, und ihr klobiger Bräutigam platzte fast aus seiner geliehenen Weste. Wie hätte Charlottes Hochzeit wohl ausgesehen? Wenn er nicht bei ihr aufgetaucht wäre, wäre sie inzwischen schon eine ganze Weile verheiratet – höchstwahrscheinlich glücklich.
Die Terrassentür öffnete sich wieder, und diesmal war es sein Vater, der kleiner und drahtiger war als Hegartys ungestüme Onkel. »Deine Mutter sucht dich. Was machst du denn hier draußen, Junge?«
Er sah seinen Vater an: Mike Hegarty, auch Maverick Mike genannt, früher bei der Polizei von Cumbria. Der Anzug war ihm zu groß, und seine Gestalt wirkte längst nicht mehr so straff und muskulös wie früher.
»Dad? Darf ich dich mal was fragen?«
»Aber schnell, mein Junge, das Büfett ist eröffnet.«
»Hast du jemals … bei einem Fall befürchtet, dass du den Falschen geschnappt hast?«
Sein Vater sah ihn forschend an. »Steckst du etwa in dienstlichen Schwierigkeiten?«
»Nein, das ist es nicht.« Hoffte er zumindest. Er hatte versucht, dem nachzugehen, aber die Spur war im Sande verlaufen, und außerdem deutete ja sowieso alles auf Stockbridge hin. Nicht wahr?
»Ich sag dir eins, mein Junge. Irgendwann wirst du den Falschen festnehmen. Wenn nicht diesmal, dann ein andermal. Und du wirst dich fragen: Habe ich einen Unschuldigen hinter Gitter gebracht? Aber du nimmst die Leute nur fest. Überlass diese Entscheidung den Gerichten.«
Aber es ging dabei um Dan Stockbridges Leben. Und um Charlottes. »Dad? Du hast Mam doch bei der Arbeit kennengelernt, nicht wahr?«
»Ja. Ich hab ihren damaligen Freund wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit festgenommen. Und am nächsten Abend hab ich deine Mutter dann schick ausgeführt.«
»Oh.«
Hegarty senior lachte, ein tabakgeschwängertes Rasseln. »Du bist auch nur ein Mensch, mein Junge. Und jetzt komm rein, bevor die Sausage Rolls kalt werden.«
Niemals hätte er seinem Vater – oder sonst jemandem – erzählen können, dass er da draußen an die Freundin eines Verdächtigen dachte. Eines Mannes, den er festgenommen hatte, sein bisher größter Fall, und er konnte einfach nicht aufhören, an das Haar und den
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