Am Samstag aß der Rabbi nichts
etwas tun will
gegen diese Gedanken. Und was wäre da geeigneter als Alkohol?»
Lanigan lächelte. «Ja … aber jeder reife, intelligente Mensch
weiß, wie der Verstand funktioniert, und trägt dem Rechnung.»
«Jeder intelligente, reife Mensch, ja. Aber die anderen?»
«Ach so …» Lanigan lächelte. «Ein bisschen überspitzt, würde
ich sagen. Aber vielleicht ist was dran … Ich weiß nicht, ob man nur
deswegen zum Trinker wird, aber …»
«Ach, das ist ja auch nur so eine Theorie. Ich meditiere einfach
vor mich hin. Ich denke ins Unreine, während ich auf einen Drink warte …»
«Gladys», rief Lanigan. «Wo bleibst du denn? Der Rabbi ist
am Verdursten!»
«Ich komm ja schon …»
Sie erschien mit einem Tablett, auf dem drei Gläser und ein
Krug standen. «Füllen Sie nach, sooft Sie Lust haben, Rabbi.»
«Und Isaac Hirsh?», fragte Lanigan, während er das Glas hob
und seinem Gast zutrank. «Nach Ihrer Theorie kann er sich wohl nicht sehr um
seine Religion gekümmert haben?»
«Er hatte vielleicht andere Schuldgefühle … Das vermutet zumindest
sein Vorgesetzter, Dr. Sykes. Er glaubt, dass Hirsh zum Alkohol Zuflucht nahm,
weil er seinerzeit an der Hiroshima-Bombe mitgearbeitet hat.»
«Ach?» Lanigan trank. «Und wie kommt es, dass Sie mit der
Sache zu tun haben?», fragte er dann. «War Hirsh in Ihrer Gemeinde?»
«Nein. Aber seine Witwe will ihn auf unserem Friedhof beisetzen
lassen.»
«Aha … Jetzt geht mir allmählich ein Licht auf. Sie fragen sich,
ob es wirklich ein Unfall und nicht etwa Selbstmord war. Habt ihr Selbstmördern
gegenüber nicht dieselbe Einstellung wie wir? Ich meine, was das Begräbnis
anbelangt.»
«Nicht ganz, aber doch ziemlich ähnlich. Es wird nicht
öffentlich getrauert, man hält keine Grabrede, und streng genommen müsste der
Verstorbene am Rand des Friedhofs begraben werden … Der Unterschied liegt
woanders; Mr. Lanigan, Sie sind Katholik; Ihre Kirche ist eine große, straffe Organisation
…»
«Was macht das für einen Unterschied?»
«… mit einheitlichen, allgemein gültigen Vorschriften in gewissen
Bereichen.»
«Während Sie Ihr eigener Boss sind?»
«Mehr oder weniger. Jedenfalls bin ich in meinen
Entschlüssen nicht von einer religiösen Behörde abhängig.»
«Wenn also der Rabbi gutmütig ist oder leicht umzustimmen
…»
«Er ist vor seinem Gewissen verantwortlich», erklärte der Rabbi
bestimmt. «Aber davon einmal abgesehen, wir haben eine etwas andere Einstellung
gegenüber dem Selbstmord. Wir verurteilen jedoch keinen, der aus Wahnsinn,
großem Schmerz oder innerer Not heraus Selbstmord begeht. Im Alten Testament
ist von mehreren Selbstmördern die Rede, deren Andenken wir ehren – König Saul
zum Beispiel.»
«Aber was bleibt noch übrig, wenn ihr den Selbstmord durch
Wahnsinn oder innere Not rechtfertigt?», fragte Lanigan. «Das umfasst doch
praktisch alle Möglichkeiten.»
«Nun ja, es lässt uns ziemlich freien Spielraum», gab der Rabbi
zu. «Aber ich glaube kaum, dass es einen Rabbi gibt, der beispielsweise das
Harakiri der Japaner gutheißen würde – den Freitod aus gekränkter Ehre.»
«Na, das trifft ja wohl bei Hirsh nicht zu …»
«Hirsh, ja … Demnach glauben Sie also, dass es Selbstmord
war? Warum steht dann im Protokoll, es sei ein Unfall gewesen?»
«Weil wir nichts beweisen können. Und um die Witwe zu schonen.
Vergessen Sie nicht, Selbstmord ist hierzulande ein Verbrechen, und ohne
stichhaltigen Beweis dürfen wir niemanden zum Verbrecher stempeln.»
«Ja … ja, natürlich. Und meine erste Frage? Nehmen Sie an,
dass es Selbstmord war – ganz abgesehen von der Beweislage?»
«Nein. Sobald von einer Kohlenmonoxydvergiftung die Rede
ist, denken alle Leute immer gleich an Selbstmord, aber das ist Unsinn. Es
passieren laufend Unfälle mit Auspuffgasen. Verdammt tückische Sache. Es
braucht nur einer in der Garage an seinem Wagen rumzubasteln; es ist kalt, er macht
die Garagentür zu … schon wird er bewusstlos. Wenn man ihn nicht rechtzeitig
findet, ist er tot … Und noch eins: Ich habe im Laufe der Jahre eine ganze
Menge von Selbstmordfällen miterlebt. Merkwürdigerweise vor allem bei jungen
Leuten. Natürlich waren auch Erwachsene darunter, aber die hinterlassen
meistens einen Brief. Die Jungen nicht. Vielleicht wollen sie einfach, dass man
um sie weint – was weiß ich. Wer älter ist, wer eine eigene Familie hat, der schreibt
vorher einen Brief.»
«Also nur weil Hirsh keinen Abschiedsbrief
Weitere Kostenlose Bücher