Am Schwarzen Berg
der Schnuck. Er schlüpfte durch die kahle Stelle in der Ligusterhecke, hinüber zu den Bubs, wo man es mit dem Putzen und Aufräumen nicht so genau nahm.
Carla stand vor dem betonierten Kasten mit den Mülltonnen und klappte einen Deckel auf. Fäulnisgeruch streifte Emil in seinem Versteck. Flink verknotete sie die Henkel und warf die Tüte in die Tonne. Dabei rutschte ein Stück Pappe heraus und landete auf dem Boden. Es war der Deckel eines Schuhkartons, mit leuchtendem Filzstift bemalt: große rote Augen und ein breiter, lachender Mund. Aus dem Gras grinste er in kräftigem Purpur bis zu Emil hoch. Die Augen waren vollständig mit Farbe ausgefüllt. Carla bückte sich stöhnend, hob das Ding auf und stopfte es in die Tonne zurück.
Der Schrei kam vom Haus her, laut und tief. Peter stand in der Tür, das Gesicht verzerrt. Emil zuckte zusammen. Carla fuhr herum. Peter rannte zu den Mülleimern und stieß seine Mutter mit einer Kraft und Grobheit zur Seite, die ihm niemand mehr zugetraut hätte. Carla schrie auf, suchte Halt am Tonnenrand, verfehlte ihn, wankte, verlor eine Sandale, fiel schließlich hin. Emil preßte die Hand vor den Mund. Er spürte seinen Herzschlag in der Kehle, sah auf ihren nackten Fuß, der schlaff und schutzlos im Gras lag. Ein Schmutzstreifen zog sich über den Knöchel bis hinunter zu dem langen Großzeh. Ihre Frisur war aufgelöst, der Rock rutschte hoch. Emil blickte auf die helle, faltige Sohle, von der er wußte, daß Carla sie regelmäßig mit Bimsstein bearbeitete. Er wußte auch von den Besenreisern, die sich hochzogen bis zu den Oberschenkeln und das nachgiebige, gut eingecremte Fleisch mit einem amethystblauen Netz überzogen. Sie kamen immer wieder, auch nach mehrmaligem Veröden. »Ich leg mich in die Sonne, dann sieht man sie nicht mehr so.«
Noch schrecklicher war es, Peter dabei zusehen zu müssen, wie er an seiner Mutter vorbeilief. Er trat auf ihre Hand. Sie schrie erneut auf. Er beachtete sie nicht, beugte sich über die Mülltonne, fischte darin herum, holte die Tüte wieder heraus, riß Flaschen hervor und schleuderte sie davon. Dann hängte er sich nochmals über den schwarzen Rand. Sein mageres Gesäß ragte erbärmlich in die Luft, der geschundene Rücken lag frei. Er wühlte im Abfall, warf einen Müllsack heraus, der beim Landen platzte. Endlich tauchte Peter wieder auf, das Gesicht rosa vor Anstrengung. In der Rechten hielt er den bemalten Karton und eine Küchenrolle. Er murmelte vor sich hin. Carla rief etwas, er fuhr herum und brüllte: »Das sind meine Sachen, wann kapierst du das endlich, meine Sachen!« Die Schultern hochgezogen, den Kopf gesenkt, lief er auf das Haus zu, trat heftig gegen die Tür und verschwand, während sie mit einem Klappen ins Schloß fiel. Muddi und Schnuck, zusammengekettet durch ein verletzliches Fleischfädchen wie ein Paar Saiten – jetzt trieben sie nebeneinander im heißen Wasser, an den Seiten jämmerlich aufgeplatzt, und zeigten ihre Wunden.
Emil merkte, daß sein T-Shirt am Körper klebte. Er roch den eigenen Schweiß, fühlte die Nässe unter den Achseln, kniff die Augen zusammen. Er bemühte sich, die Geräusche ringsum auseinanderzuhalten: Carlas Wimmern, das Poltern hinter der geschlossenen Tür, die unbarmherzigen Vogelstimmen, seinen eigenen Atem, das hektische Schnaufen eines mutlosen Taugenichts. Gerne hätte er etwas getrunken, ein großes kaltes Glas, zur Hälfte mit Eiswürfeln gefüllt. Veronika sollte endlich kommen und sie mit ihren dünnen Fingern aus der Form drücken, Johnny oder Jimmie darübergießen und sich neben ihn auf den Boden setzen.
Carla stand auf und bückte sich nach ihrem Schuh. Mit überraschend energischen Bewegungen klopfte sie den Staub aus den Kleidern. Ihr rechter Fuß scharrte eine Rinne in den Kies. Der Haarknoten hatte sich gelöst und lag nun als weicher, vom Morgenlicht durchstrahlter Schweif über der Schulter. Carla stand in der Sonne, griff sich in den Nacken, ließ den Pferdeschwanz selbstvergessen durch die Finger laufen, als streichle sie ein Tier. Langsam begann sie, sich einen neuen Zopf zu flechten und diesen mit der lose baumelnden Haarklemme im Nacken festzustecken. Ohne die wirre Frisur bekam ihr Gesicht einen klaren und aufgeräumten Ausdruck. Sie schob die Unterlippe ein wenig vor und wirkte entschlossen, fast trotzig. So sah sie aus, wenn sie in Hajos Praxis an der Anmeldung saß. Einmal im Quartal holte Emil dort die Rezepte für seine Schmerztabletten und
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