Am Schwarzen Berg
Wohnzimmer unter einem Sofakissen hervor. Veronika meldete sich. »Ich bin’s bloß. Du schnaufst so. Machst du was im Garten? Mähen etwa? Bei der Hitze!« Emil knurrte nur. »Hast du etwas gehört?« Er antwortete, ohne nachzudenken: »Nein, es ist alles ruhig. Sein Fenster steht offen.« Veronika erwiderte nichts. Er konnte das hastige Trommeln ihres Bleistiftes auf der Schreibtischunterlage hören. Sie hängten auf, ohne sich zu verabschieden. Emil stand einen Augenblick lang verdattert vor dem Sofa. Der Wetzstein tropfte den Teppich voll. Auf dem Couchtisch stand der Aschenbecher, in dem sich Kippen mit Lippenstiftspuren am Filter krümmten. Veronika rauchte ihre Zigaretten nie vollständig herunter. Sie hing dem alten Mythos an, daß das meiste Gift kurz vor dem Stummelende saß. Auf einem Teller aus Biskuitporzellan lagen ein paar Mirabellenkerne in einer eingetrockneten Saftpfütze. Das weiße Mittagslicht fiel auf die Rücken von Emils Büchern, die rot, braun und golden in ihren Regalen und hinter den dunstigen Scheiben des hohen Schrankes standen. Gestern abend hatte er mit Veronika hier gesessen. Die Balkontür war weit geöffnet gewesen, ebenso das Fenster, durch das man den Wald sehen konnte, über dem in roten Wolkenschlieren die Sonne untergegangen war. Die Zugluft, die die Haarsträhnen um Veronikas Schläfen zittern ließ, war heiß gewesen und hatte nach einem weit entfernten Grillfeuer gerochen und schwach nach trockenen Buchenblättern, die auf den Waldwegen zerfielen.
Emil wußte nicht, was er jetzt tun sollte. Als er zum Bücherregal ging, streckte er die Hände aus, in der Hoffnung, dort Trost zu finden. Er zog ein in dunkelrotes Leder gebundenes Buch heraus, blätterte darin, ohne wirklich zu lesen. Die schwarz verschnörkelten Kapitelvignetten traten aus dem Papier hervor wie große Tätowierungen, und Emil dachte zurück an den Tag, an dem er Peter dieses Buch zum ersten Mal gezeigt hatte.
Peter war damals dreizehn oder vierzehn, stimmbrüchig und wortkarg. Das Forstgebiet um den Gängelbach, sein unüberschaubares Knabenrevier, reduzierte sich täglich mehr auf einen Mischwald, der von Straßen durchquert und von Wohnsiedlungen bedrängt wurde. Wenn er seine alten Weinbergpfade entlanglief, hörte er das Keuchen der B 10 aus dem Tal, sah die Schornsteine des Kraftwerks am Neckarufer, die Blechbaukastensysteme der Hafenanlagen, die den Fluß umstellten. »Eigentlich ist es hier wahnsinnig häßlich«, hatte er bei einem gemeinsamen Spaziergang mit Emil am Rennweg gesagt. Rasch hatte die Langeweile auch den Garten seiner Eltern verwandelt, genauso wie den der Bubs: in klägliche Abhänge, an denen Staudenbeete, Mäuerchen und mittelständische Einfamilienhäuser klebten. Die Kinderherrlichkeit war zu einer reizlosen Modelleisenbahnlandschaft zusammengeschrumpft und durch nichts Neues ersetzt worden. Auch Emil gegenüber war Peter oft mürrisch und wütend.
Damals war Peter fast jeden Nachmittag allein. Auch wenn Sonnenglast den Garten füllte, ließ er die Rolläden herunter und hängte sich auf die olivgrüne Ledercouch vor den Fernseher. Die Linie 9 brachte den wenig erfolgreichen Gymnasiasten jeden Nachmittag auf einer schläfrig zuckelnden Halbstundenfahrt aus der Innenstadt zurück. Er besuchte das Gymnasium an der Schillerstraße, an dem auch Emil unterrichtete. In den ersten Jahren hatten Veronika und Emil ihn im Auto mit in die Stadt genommen und häufig auch wieder zurück nach Burghalde gefahren. Inzwischen wollte er von den Bubs ebensowenig abgeholt werden wie von seiner Mutter. In Wangen hatte eine Videothek aufgemacht, und Peter stieg häufig an der Haltestelle Marktplatz aus. Dort lieh er bei einem quarkgesichtigen Jugendlichen, der nur wenige Jahre älter war als er, Filme aus, manchmal auch solche, die er eigentlich noch nicht sehen durfte. Carla arbeitete jetzt häufiger in der Praxis. Hajo hatte sie dringend gebraucht. Ihr schlechtes Gewissen ihm gegenüber war stärker gewesen als ihre Sehnsucht nach Peter. Natürlich rief sie dauernd an, was ihren Sohn so sehr störte, daß er den Telefonstecker manchmal aus der Wand zog. Dann klingelte es bei Emil, und er wurde nach nebenan geschickt: »Was ist mit dem Jungen? Du mußt nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Sofort. Ruf mich wieder an, ich kann nicht weg, hier ist der Teufel los.« Der fernsehende Peter schämte sich, wenn ein Erwachsener dabei war. Leute beim Küssen zu beobachten ging allein, aber nicht zusammen mit
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