Am Schwarzen Berg
energisch verbeten. Mit Bohnenberger sprach Veronika selten über Emil, sie fand das indiskret und ungehobelt. Otto hingegen schien den Austausch über seine Frauenprobleme zu brauchen. Er nannte es ›freundliche Ratschläge aus dem Feindeslager‹. Bei zwei seiner drei Trauungen war sie dabeigewesen, erstaunlich gekränkt und zugleich erleichtert.
Otto atmete tief durch und sah sich um. Tatsächlich war seine Erzählung nicht allein für Veronika bestimmt gewesen. Er hatte die anderen Zuhörerinnen schon länger im Auge, seine geschulte Stimme wurde lauter, die Handbewegungen ausgreifender. Vom Tisch nebenan schauten zwei Büroschönheiten herüber, Allianz oder Commerzbank, obsthäutig, schmalknöchelig und sichtlich amüsiert. Veronika kreuzte die Arme über der Brust und richtete sich auf. »Mir geht’s heute nicht gut. Ich möchte mich am liebsten verkriechen.« Sie nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. Die Bemalung litt, aber sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Otto sah sie sorgenvoll an. »Wollen wir runter in den Keller? Mir tut die Hitze auch nicht gut, der alte Schwung ist hin. Außerdem wird der Wein hier oben viel zu schnell warm.«
Otto erhob sich ächzend und humpelte zur Theke hinüber. Ewald, der Wirt, spülte Gläser und pfiff vor sich hin. »Wir hätten gern den Schlüssel, uns stört die Sonne.« Ewald langte in die Bauchtasche seines grünen Schurzes und förderte einen schmalen, rostigen Haken zutage. »Ich bring euch euer Sach runter. Wollt ihr was essen? Die Kutteln sind gut heute.« »Nein, wir brauchen noch eine Flasche. Sie muß aber excellent sein.« Veronika folgte Otto. Sie gingen nicht durch den gemauerten Bogen neben dem Tresen, über dem in gotischen Lettern ›Schlangenkeller‹ stand. Otto hielt ihr eine Tür neben der Küche auf. Diese trug einen Aufkleber: ›Privat‹.
Der Schlangenkeller war ein beliebtes Lokal bei Touristen und Einheimischen. Der Schlüssel für den zweiten Keller war nicht für alle Gäste zu haben. Ewald gewährte nur denjenigen Zutritt, die den Vorschriften entsprachen, die sein Ahnherr Wolf Aberlin, der Schlangenwirt von 1791, in seinem Abrechnungsbuch für die Nachkommenschaft festgehalten hatte: »Das Schlüssele zum zwoten Keller, das laß nicht jedem. Was mein Vater mir noch gesagt hat, von Mund zu Ohr, das will ich jetzo niederschreiben, auf daß es nicht verlorengehe: Es muß unser Haus einen Ort haben für jene, welche nicht nur an der Oberfläche der Erde kratzen, sondern nach einem Fetzlein vom Firmament streben und die nicht zufrieden sein können mit dem billigen Trost des Schaffens und Raffens hinieden. Darob werden sie oft verdrießlich und grämlich und sehnen sich nach etwas, das sie nicht greifen können. Es gehört zum Brauch und Recht der Wirtschaft ›Zur Schlange‹, daß nur solche Leut im zwoten Keller hocken sollen, wo sie unter ihresgleichen sind und ein wenig Ruh finden können. Wer nicht paßt für den zwoten Keller, der mag ruhig oben saufen, wo er schnell wieder an die Sonn heraustreten kann zu seinen Geschäften. Und vermisch nicht die Leut, das tut nicht gut, und auch den Wein tu nicht mischen, wenn manch andrer auch gewissenlos panscht für ein paar Pfenning mehr.«
Ewald hatte Veronika einmal erzählt, daß der zweite Keller zu Mörikes Zeiten viel schwerer zugänglich gewesen sei. Man habe ein Paßwort gebraucht und eine Art Prüfung machen müssen, von deren Inhalten er leider nichts mehr wisse. Heute seien sie nicht mehr so streng. Wer ihn nach dem Schlüssel frage und nicht gar zu unsympathisch sei, der bekomme ihn auch. »Aber hier unten waren immer nur die, die was taugten. Mein Vater hat gesagt, kein Nazi habe hier je seinen Fuß reingesetzt. Es sollen auch Leut hier versteckt worden sein, aber ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt. Inzwischen will ja jeder irgendwen versteckt haben. Eine Republik der Helden.« Emil war bereits als Oberprimaner Gast des zweiten Kellers gewesen. Er hatte zuerst Veronika, später manchmal Peter mitgenommen.
Otto und Veronika stiegen eine enge Wendeltreppe hinab und gelangten just in dem Moment, als sie das endlose Hinabschrauben der Stufen schwindlig werden ließ, in einen großen Saal, der von ein paar nackten Glühbirnen beleuchtet wurde. Es roch nicht muffig. Durch den ganzen Raum strömte ein kühler Hauch wie vom Grund eines Sees. Mächtige steinerne Pilaster stützten das Gewölbe. Der zweite Keller hatte ungeheure Ausmaße, im ganzen hätte ein
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