Am Schwarzen Berg
Peter vielleicht Lust, morgen mit Veronika und mir in den Märchengarten nach Ludwigsburg zu fahren? Nach der Nachhilfe? Dann könntet ihr beiden mal etwas zu zweit unternehmen.«
Veronika staunte jedesmal darüber, wie lange und ungeschützt Carlas Blicke an Emil hängenblieben. Sie huschte zwei Schritte hinter Hajo durch das Gartentor, wehende Mähne, weißblaues Wickelkleid. Unter ihrem Stuhl reihten sich die Flaschen, und wenn sie aufstand, stießen sie klingelnd aneinander. Ihr Hamburgisch wurde im Laufe des Abends immer breiter. Das Bier spülte seltsame Vokabeln hoch: Döspaddel, Schietbüdel, der Lütte. Der Lütte, der ihr gehörte, auf Gedeih und Verderb. Von ihr herausgepreßt worden war. Veronika hatte die Fotos gesehen, den winzigen Peter in Carlas Arm. Ein Nestchen dunkles Haar, ein Knautschgesicht, fest zusammengekniffene Augen. Die prahlerischen Unterschriften in ihrem Album: Unser Peter. Unser kleiner Junge.
Selbstverständlich hatte Otto angenommen, daß dieser Peter Veronikas Sohn war. Seiner Annahme hatte sie seit Jahrzehnten nicht widersprochen. Obwohl sie sich dafür schämte, untermauerte sie seinen Irrtum mit immer neuen Peter-Geschichten, bis hin zu ihren Enkeln Ivo und Jörn. Ottos selbstverständlicher Glaube an diese Lügen wärmte sie bis ins Innerste. Veronika konnte sich wochenlang freuen, über Sätze wie »Er wird dir immer ähnlicher, dieser Peter, vor allem sein Gang, das bist ganz du«.
Außer den beiden kleinen Mädchen mit seiner jetzigen Frau hatte Otto noch drei erwachsene Töchter aus vorangegangenen Ehen. Nie vergaß er, Veronika nach dem Wohlergehen ihres Peter zu fragen. Als einziger Mensch auf der Welt nahm er sie als das, was sie zu sein wünschte. So fuhr sie fort zu jammern und zu klagen und benutzte dabei dieselbe Formel wie Carla: »Ich mach mir solche Sorgen um meinen Schnuck.«
Otto war müde, er bekam Schlitzaugen und legte ihr den Arm um die Schulter. Schließlich gab er zu, daß seine großen Mädchen auch nicht immer ein Quell der reinen Zufriedenheit gewesen seien. Es habe viel Haareraufen gegeben. Die Weiber hätten einiges aufgeboten: unmäßigen Cannabiskonsum, Rucksackreisen durch Entwicklungsländer, eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin, eine Schwangerschaft im Teenageralter, die sich dann doch als der berühmte auf und ab schwellende Ballon herausstellte. Am schlimmsten wäre die Verwandlung dieser aus sich selbst heraus Freude spendenden Springbrünnlein in mürrische, Diät lebende Frauen gewesen, die nur noch Verachtung für ihren fremdgewordenen alten père übrig hätten. »Tröste dich, Veronika. Dein Peter wird sich von neuem aufrichten, glaub mir. Sie stehen alle wieder auf, dafür sind sie jung.«
6 Emils rechter Arm verschwand bis über den Ellbogen im Wasser. Seine Hand wanderte auf dem Kiesgrund entlang wie eine große, bleiche Krabbe und griff nach dem Topfkratzer, der glitzernd im Schein der Neonleuchten lag. Mit kreisenden Bewegungen begann er, die Scheiben des Aquariums zu putzen, an denen die Algen wie winzige grüne Farbspritzer klebten. Das Wasser schwappte in dem Glaskasten hin und her, die Fische schossen ängstlich über den Kiesboden. Es gab keine Pflanzen, hinter denen sie sich hätten verstecken können, nur ein paar Steine und ein Stück Moorkienwurzel, auf deren rissiger Oberfläche büschelweise Fadenalgen wucherten. Die Wurzel, eigentlich ein schönes, bogenförmig gekrümmtes Stück, dessen hohler Innenraum bestimmt als Welshöhle dienen sollte, war nicht richtig eingesetzt, sondern nur ins Wasser geworfen worden. Jetzt hing sie über den achtlos verstreuten Steinen wie ein abgesunkenes Wrackteil. Emil legte den Schwamm beiseite und ordnete die Steine in einer Diagonale, stellte das Holz dahinter auf, rupfte die üppigsten Algen ab. Zwei Welse mit langen Barten hatten an der Innenseite der Wurzel geklebt und fuhren nervös vor der Frontscheibe herum, bevor sie sich an ihr festsaugten. Emil sah das Oval ihrer beweglichen Mäuler, mit denen sie am Glas hingen, die pulsenden, schabenden Bewegungen ihrer feisten, hellen Lippen, die die Algen abfraßen. Unter dem Filter hatte sich eine kleine Schar Buckelköpfe zusammengedrängt. Sie starrten mit bösen Augen ins trübe Wasser, in dem durch Emils Putzaktion viel Mulm aufgewirbelt worden war. Mit ihren hohen Stirnen, verdrossen nach unten zeigenden Wulstlippen und dem durch keinen Lidschlag unterbrochenen Fischblick ähnelten sie grämlichen alten Männern. Ein kleiner Schwarm
Weitere Kostenlose Bücher