Am Schwarzen Berg
Augen blieben geschlossen. Emil irritierte sein Anblick. Er hatte Peter noch nie zuvor mit Bart gesehen. Auch als eifriger Friedensdemonstrant, Amnesty-Mitglied, Zivildienstleistender im Burghalder Altenheim, der das blondbraune Carla-Haar schulterlang trug, war Peter jeden Morgen neben Hajo im Bad gestanden und hatte sich rasiert. Er benutzte einen riesigen chromblitzenden Braun, ein Geschenk seines Vaters. Hajo besaß genau den gleichen. Emil hatte die beiden Rasierapparate nebeneinander stehen sehen wie kleine Spaceshuttle, bis Peter auszog und mit Freunden aus der Logopädieschule eine WG gründete.
Es war seltsam, Peter wieder in seinem Kinderzimmer zu sehen. Die Einrichtung hatte sich in all den Jahren kaum verändert: vor dem Fenster stand noch immer der ›mitwachsende‹ Schreibtisch. Auf seiner beschichteten Arbeitsplatte lag eine Weltkarte mit den Grenzen von 1976, dem Jahr von Peters Einschulung. Neben Kiefernholzregalen voller Taschenbücher war eine Sprossenwand verdübelt. An ihren nachgedunkelten Holmen hatte der kleine Peter seine Kniekehlen eingehängt, um kopfüber zu baumeln und mit den Fingerspitzen den Teppich zu streifen. Die Gegenstände auf den Borden über dem Bett hätte Emil mit geschlossenen Augen aufzählen können – den beleuchtbaren Globus, die ›Gorch Fock‹ als Buddelschiff, Kasperpuppen, eine dunkel bemalte Fimo-Skulptur mit ungelenken Gliedmaßen. Ihre klumpigen Füße ruhten auf einem Papierschild mit Peters Kinderschrift: ›Der Riese am Schwarzen Berg‹. Unter einer milchigen Plastikhülle hockte das Mikroskop, daneben die beiden Kästen voller Glasträger mit Präparaten aus Hajos Studienzeit. Auf dem Nachttisch standen das Pappgesicht, das Peter aus der Mülltonne gerettet hatte, und eine leere Küchenrolle, ebenfalls mit Mund und Augen. Die beiden kleinen Totems schauten mit starren, bunten Blicken auf die Rauhfasertapete. Hier war noch immer der schwungvolle Schriftzug zu sehen, den Carla einst mit dem Fuß an die Wand geschrieben hatte: Peter, mein Lieblingsschnuck. Caroline Mathilde Rau, Ostern 1979.
Peter schien zu schlafen. Er stank fast so schlimm wie die Bibliothekspenner, von denen Veronika manchmal erzählte. Weißliche Krusten klebten in seinen Mundwinkeln, die Haut der Lippen hing in Fetzen, Wundränder lagen offen wie Krater, überschmiert von Carlas Nivea-Creme. Emil stand immer noch neben dem Bett. Durch die angelehnte Tür hörte er Carla unten in der Küche klappern, der Geruch von gekochten Äpfeln zog herauf. Er sehnte sich plötzlich nach Veronika. Wenn Peter beim Herumtoben in ihrem Garten Nasenbluten bekommen oder sich das Knie aufgeschlagen hatte, war sie zur Stelle gewesen, hantierte furchtlos mit Jodfläschchen und Kompressen. Hatte Emil in seinem Überschwang zuviel Sprite oder Eis am Stiel ausgegeben, brachte Veronika die dickwandige Tasse mit dem schwarzen Huhn, in der ein Beutel Kamillentee trieb. Sie war fürsorglich und unaufgeregt. Der alte Beyer hatte sie nicht gerne hergegeben.
Der alte Beyer, Veronikas Vater, war Architekt gewesen, mit Haus und Büro in der vornehmen Birkenwaldstraße. Ein Erfolgsmensch mit Schaufelhänden, Bluthochdruck und einer Vorliebe für lange Wanderungen. Ein Frömmler, der im Kirchenchor sang und fürchtete, vom Tod verschlungen zu werden wie Jona vom Wal. Emil war ihm suspekt gewesen, schon rein äußerlich. Das ›Streichholzmännle‹ hatte er ihn geheißen. Sohn einer Geschiedenen, keinen Knopf auf der Naht, aus verlotterten Verhältnissen. Auch seine Profession hatte den alten Beyer abgeschreckt: Student auf Lehramt, ein Steißtrommler in spe, der hinter seiner Tochter her gewesen war wie der Teufel hinter der armen Seele. Ein Hungerhaken, der in einer Laube hinter Degerloch wohnte, auf einem verwahrlosten Gartengrundstück, wo nichts gedieh außer Fröschen in einem brackigen Tümpel. Einer, der dreimal die Woche auf einem alten Fahrrad in die Stadt herunterstrampelte, kurz bei seiner Mutter hereinschaute, ein paar Stunden an der Tübinger Uni verschnarchte und ansonsten den lieben langen Tag mit irgendwelchen Büchern im Gras lag, abgeschottet von aller Welt, zwischen Krautfeldern und Obstwiesen. Im Froschgarten gab es weder Strom noch fließend Wasser. Emils Mutter hatte das Stückle nach dem Krieg gepachtet, um dort, mit geringem Erfolg, Gemüse anzubauen. Emil hatte sich mit Matratze, Gaskocher, Bücherregalen aus Ziegelsteinen und Orangenkisten in dem baufälligen Häuschen eingerichtet. Ab Oktober
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