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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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überhaupt hörte, aber er mußte weitersprechen, sich rechtfertigen vor der Gestalt unter der Decke, um ihr zu versichern, daß er nicht schuld war an ihrem Zustand. »Ich war sogar einmal im Park, noch vor den Ferien. Ein paar Leute aus Burghalde haben mich im Auto mitgenommen. Mein Führerschein ist mal wieder weg, das weißt du noch gar nicht. Ich habe euch sogar gesehen, die Kinder und dich, alle in den gleichen grünen T-Shirts. Jörn trug eine Fahne. Und dann bin ich in Olga reingelaufen, Olga Sucher, eine Kollegin. Ich habe dir noch nie von ihr erzählt. Ist auch vollkommen uninteressant. Jedenfalls konnte ich nicht bleiben.« Emil drückte die schlaffe Hand, preßte sie gegen seine Stirn. »Verzeih mir bitte.« Peter atmete hastig, sein Brustkorb hob und senkte sich, die Nasenflügel bebten.
    Olga Sucher hatte Emil im Protestgewühl des sommerlichen Schloßgartens entdeckt. Ihre schmale Hand hatte seinen Arm unter dem Hemd festgehalten. Die Berührung hatte ihn so erregt, daß er kaum noch hörte, was sie, halb lachend, halb verärgert, zu ihm sagte. Es ging um eine Einladung zum Abendessen, zu der Emil nicht erschienen war. Sucher war eine schmale Braunäugige mit Adlernase, etwa in Peters Alter. Sie unterrichtete Englisch und Gemeinschaftskunde. Olga trug eine Tunika mit Blumenstickerei und keinen BH . Emil sah ihre Brüste sanft nebeneinanderliegen und wandte sich ab. Olga sprach undeutlich, als habe sie Karamellen zwischen den Zähnen, lachte in die vor den Mund gehaltene Hand. »Es ärgert mich, wie du mit mir umgehst. Läufst herum wie ein fein verpacktes Geschenk, mit Schleifchen und allem. Aber im entscheidenden Moment, wenn man das Papier aufreißen will, weil man es nicht mehr aushält, gibt’s eins auf die Finger.« Emil war im Frühjahr auf einer gemeinsamen Klassenfahrt nach Straßburg die halbe Nacht mit Olga in einem Jugendherbergsbett gelegen. Er war sich nicht sicher, ob es richtig gewesen war, schließlich doch aufzustehen und sich anzuziehen. Er hatte nicht an Veronika gedacht, als er in sein Zimmer zurückgegangen war, sondern an die saugende Abhängigkeit, die hinter Olgas Pose lag und vor der er sich fürchtete. Emil hatte nicht vor, Veronika von der Sucher zu erzählen. Sie hätte vermutlich nur eine spöttische Bemerkung über die intellektuelle Ehe und ihre Möglichkeiten gemacht.
    Die Wohnung in der Mozartstraße, in der Emil sein Augenlicht wiedererlangt hatte, war eine Wohngemeinschaft gewesen. Veronika lebte dort zusammen mit drei Kunststudenten und allem, was dem alten Beyer gegen den Strich ging: Che-Plakaten, Flugblättern in Schuhschachteln, Revolutionsgerümpel. Jedes Zimmer war in einer anderen Farbe gestrichen. Engel lugten mit ölfarbenbeschmierten Gesichtern aus den Fruchtkränzen der Stuckdecken herab, bar aller Lieblichkeit, ochsenblutrot, tiefviolett, chromgrün und schwarz. Auf den glatten Gipswangen saßen angetrocknete Farbnasen wie Warzen. Das Entree füllte ein eichenes Gründerzeitbüffet, vollgestopft mit Lackdosen und Werkzeug. Die geschnitzten Fronten trugen Kratzer und Brandflecken. »Wir haben es nur behalten, weil wir es nicht durch die Tür kriegen, das Monstrum.«
    Emil haßte Veronikas Mitbewohner, lauter Männer, die jünger waren als er, lange Haare trugen, Frank Zappa hörten, barfuß auf ihrer Loggia standen und mit zusammengekniffenen Augen Rauchwolken über die Stadt bliesen. Schließlich bot einer von ihnen Veronika an, als Texterin in seine Werbeagentur einzusteigen, statt weiter in der öden Stadtbücherei zu verschimmeln. Diese Offerte trieb Emil im Schweinsgalopp durch seine Prüfungen bis zur Festanstellung am Gymnasium in der Innenstadt und aus der Laube im Froschgarten in die Relenbergstraße. Am Fuße von Veronikas heimatlichem Killesberg mietete der jungverheiratete Beamte eine Dreieinhalbzimmerwohnung mit Zentralheizung. Als er in einem neuen Anzug den Mietvertrag unterschrieb, fand er sich lächerlich.
    In der Relenbergstraße gab es eine Badewanne. Blaue Gasflammen tanzten im Bauch des Boilers. In ihrem Licht rieb Emil Veronikas Rücken mit Mandelkleie ab und weidete sich an ihren schmalen Gliedern, an den triefenden Haaren, die sich in nässedunklen Strähnen über ihren vorstehenden Brustwarzen teilten. Er griff im seifigen Wasser nach ihrer Hand, spreizte die langen Finger und suchte, ob nicht zwischen ihnen eine Schwimmhaut saß, wie bei Mörikes Lau: blühweiß und zärter als ein Blatt von Mohn. 1971 starb Emils Mutter und

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