Am Schwarzen Berg
stützte ihn, spürte die langsamen Bewegungen, mit denen der Brustkorb auf und nieder ging, die feuchte Wärme der verschwitzten Haut. Peter schluckte häufig und schwer, als hätte er etwas Trockenes herunterzuwürgen. Er roch anders als bei seiner Ankunft, besonders sein Atem, ein saurer, gelblicher Geruch, dem etwas Chemisches anhaftete. Der durchdringende Gestank des seit Wochen ungewaschenen Körpers war verschwunden. Hajo hatte stolz erzählt, wie es ihm gelungen war, seinen Sohn unter die Dusche zu stellen. »Ich gehe mit ihm zusammen, wie früher, als er noch klein war und man ihn durchs Haus jagen mußte, damit er mal Wasser sieht. Ich habe ihm gesagt, du mußt nichts tun, ich seife dich ab und stelle die große Brause an, es ist ganz schnell vorbei. Er war nicht begeistert, aber er ist tatsächlich mitgegangen. Jeden Tag klappt das nicht, aber der gröbste Dreck ist runter. Das zeigt auch, daß die Wirkung langsam einsetzt. Keine völlige Katatonie mehr.« Emil stellte sich die beiden nackten Männer in Carlas Dusche vor, umgeben von den braungrünen Kacheln, über die sie manchmal jammerte. Hajos Körper mit haarigem Kugelbauch, die vom täglichen Dauerwaschen runzeligen Hände, die triefende Glatze. Sicher hatte er sich auf die Zehenspitzen gestellt, um Peter die Haare zu waschen. Lotionen und Syndets in großen Klinikpackungen, das heiße Flüstern des Wasserstrahls, Peters geschundener Rücken.
Jetzt zog Emil Peter über den Gartenweg. Er war begeistert von der Tatsache, daß er ihm überhaupt nachkam, ähnlich wie Hajo über seinen Duscherfolg. Aufgeregt redete er auf ihn ein. »Wir fahren überall rum, schauen, wo sie sein könnten. Heute ist ein schöner Tag, vielleicht unternehmen sie etwas. Wilhelma, Schloßgarten, Eiswägele. Kinder sind Gewohnheitstiere.«
Emil glaubte selbst nicht an seinen Plan. Er erschien ihm so absurd und weltfremd wie die Unternehmungen der Helden aus alten Bilderbüchern: Bills Ballonfahrt. Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Gleichzeitig wünschte er sich brennend, es könnte gelingen. Er malte sich aus, wie Peter seine Jungen wiedersah, wie ihre Umarmungen die schreckliche Starre auflösten, wie der alte Peter aus dem verkrusteten Larvenleib hervorbrach, der Peter, den er kannte.
Emil stellte sich vor, wie Peters Kinder vor dem Eiswägele warteten. Sie bestanden nur aus ihren dünnen, gebräunten Gliedmaßen, die Hosen lehmig an den ausgefransten Säumen, statt der Gesichter verschwommene Kreise. Ivo und Jörn, seltsame Namen, nach deren Herkunft er Peter nie gefragt hatte. Dafür sah er das Eiswägele um so deutlicher. Diese knallrot lackierte Schachtel auf Rädern, die am Ausgang der Klett-Passage im Schloßgarten stand. Emil imaginierte die Hängebrücke, den schlafenden Eberhard auf seinem Sockel und den aufgeblähten gelben Pilz des Landespavillons. Hinter Baumkronen lauerten die Umrisse seiner Schule. Mit Olga war Emil manchmal in der Mittagspause dort gewesen. Sie leckte immer die gleichen Sorten: Haselnuß und Schokolade. Den Wagen zierte eine mädchenhafte Schlaufenschrift, daneben klebten Parolen gegen Stuttgart 21. Über den buntgefüllten Eiscremebehältern waren die Waffeln zu einem großen Füllhorn aufeinandergesteckt. Dahinter glänzte die lächelnde Eisfrau. Mit silbernem Löffel fuhr sie in den Trögen herum und war mit ihren vollen Brüsten und Armen, einer vom Dialekt durchwärmten Altstimme so verlockend wie der Sommer im Park hinter ihr. Sie würde zuerst die Wünsche der Kinder erfüllen. Dann wäre Peter an der Reihe: bartlos, gebräunt, das hagere Gesicht mit den Carla-Augen, der schmalen Hajo-Nase und diesem beweglichen, besonders an der Oberlippe so zart geschwungenen Mund. Er lachte und biß ein Stück Eiskugel ab. Die Kinder riefen: »Papa, man darf nichts Kaltes beißen«, und er legte der Eisfrau einen Fünfeuroschein hin, den er, mehrfach gekniffen, lose in der Vordertasche seiner Jeans trug, weil er noch nie einen Geldbeutel besessen hatte. Wie ein Gammler, sagte Hajo.
Emil schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen, weil ihm die Tränen kamen. Er schämte sich für die kitschige Vorstellung, aber er fühlte sich tatkräftiger als Carla mit ihrem hilflosen Geglucke oder Veronika, die jeden Tag verbissener in die Stadtbücherei flüchtete. Er wußte, daß sie das Auto stehengelassen hatte, damit sie schon in der Straßenbahn anfangen konnte zu trinken. Sie war nur mit einem gewissen Pegel in der Lage, Peter zu besuchen. Länger
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