Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
Vom Netzwerk:
offen, Geschirr klapperte. Veronika erhob sich, drückte die Handtasche an sich und trat vor das Haus, wo die Steidles gerade ihr Werkzeug zusammenräumten. Die Motorhaube hatten sie bereits geschlossen, im Lack des Fahrzeugs spiegelte sich der Abendhimmel. Vor der Bank an der Hauswand war ein Klapptisch aufgebaut. Darauf stand eine große Plastikschüssel voll Kartoffelsalat, schlonzig, wie es sich gehörte, glasige Zwiebelwürfel dazwischen. Auf einer Platte lagen Saitenwürstchen kreuz und quer übereinander. Frau Steidle, igelig geschorenes graues Haar über den leicht abstehenden Ohren, setzte einen von Besteck gekrönten Tellerstapel daneben. Ihr breiter Hintern wölbte sich unter dünnen Baumwollhosen. Die Ränder eines ungeheuren Slips zeichneten sich deutlich ab. Ein Stoff wie Klopapier, dachte Veronika. Sie fummelte einen Notizblock aus der Handtasche und schrieb ihre Telefonnummern auf: Handy, Palais, Schwarzer Berg. Sie legte den Zettel der Steidle auf den Tisch. »Wenn Sie etwas von Mia und den Kindern hören, rufen Sie bitte bei uns an. Wir machen uns große Sorgen.« Die Frau verteilte Gläser und Besteck. Sie sah Veronika aus vorstehenden blauen Augen an. »Ich versteh das alles nicht. Das war eine nette Familie. Bißchen ungewöhnlich. Aber man steckt nicht drin. Man kann nur hoffen, daß es mit den eigenen gutgeht. Aber die Welt wird auch immer verrückter. In letzter Zeit kommen selbst hier raus so komische Leute. Flaschensammler, die machen jede Tonne auf, wegen Pfand. Aus der Innenstadt, da kenne ich das, aber hier im Etzelweg sind sie noch nicht lange. Man fühlt sich gar nicht mehr richtig wohl.« Sie öffnete ein Schraubglas, legte warzige dunkelgrüne Essiggurken in einem Kranz um den Saitenberg und wischte sich die Hände an der Hose ab. »Da, sehen Sie, was ich meine? Da ist schon wieder so einer!«
    Über den Zaun hinweg erkannte Veronika die zarte Gestalt des Grafen. Er beugte sich über einen Mülleimer vor dem Haus gegenüber. Zu seinen Füßen standen mehrere Baumwollbeutel, aus denen die bunten Schraubverschlüsse von Plastikflaschen hervorschauten. Sie überlegte, ob sie rufen und winken sollte, entschied sich aber dagegen, da sie die Situation peinlich für ihn und sich selbst nicht in geeigneter Verfassung fand. Schnell sah sie zurück auf die Gurken und murmelte: »Emil hat seinen Kukumerntag dieses Jahr verpennt!« Veronika zwinkerte in der Abendsonne. Seit sie Emil kannte, beging er diesen einzigen Mörike-Gedenktag, den die Anhängerschaft des Dichters jährlich am 3. August in Erinnerung an die ›Häusliche Szene‹ feierte. Am Bloomsday brauchte man nur Burgunder und Blauschimmelkäse. Für Mörike mußte es schon komplizierter sein. Die Eduardianer setzten eigenen Essig an, legten Gurken ein und stellten die Flaschen, möglichst zahlreich, auf ihre Fensterbänke. Die armen Gurken, sie wirkten wie Homunculi, die im heißen Sud schwimmen und tagelang im Sonnenlicht ausharren mußten. Auch am Schwarzen Berg standen sie im Küchenfenster und starrten griesgrämig in Richtung Wald.
    Seit Emil bei Facebook war, schrieb er die wachsende Ausbreitung des Kukumerntags seiner Aufklärungsarbeit zu. Er war dem Netzwerk beigetreten, weil er glaubte, dies seinen Schülern schuldig zu sein. Anstelle eines Fotos hatte er das verführerisch schöne Portrait des jungen Mörike eingestellt. Er verschickte regelmäßig Einladungen und Rezepte und hatte auch schon, sehr zum Ärger der Schulleitung, mit seinen Zwölfern flaschenweise roten, weißen und grünen Kräuteressig sowie große Mengen von Remstaler Gurken in Weckgläsern an den Frontfenstern des Gymnasiums aufgereiht. Das Licht, das durch den zartgelben Sud, die feinfedrigen Dillstengel, die grünen Gurkenleiber in den Klassenraum strömte, war zu einem Aquariumsdämmer gefiltert. Die Gurken wurden andachtsvoll verspeist, nachdem die entsprechenden Zeilen rezitiert worden waren. Der erste Kukumerntag hatte am 3. August 1906 in der Stuttgarter Alexanderstraße in der Wohnung des Architekten Alfred Seitz stattgefunden.
    Die Gedanken an Emil und die Gurken lenkten Veronika ab. Sie verabschiedete sich mit einem abwesenden Lächeln von den Steidles. Sie bemerkte nichts von dem Kopfschütteln, das ihr die Nachbarin hinterherschickte, auch nicht deren Mißbilligung beim Anblick von Veronikas tiefem Rückenausschnitt und ihrem zitternden Innehalten am Gartentor, dem erneuten Griff in die Handtasche, dem krampfartigen Schlucken und dem

Weitere Kostenlose Bücher