Am Schwarzen Berg
zeigte ihr den Vogel. Er fand sich lächerlich, nackt und haarig auf der weißen Kloschüssel, wie ein Kind auf seinem Töpfchen. Er drückte seinen aufgerichteten Penis mit der Hand nach unten und schüttelte den Kopf. Veronika stand immer noch vor ihm, beschimpfte ihn und zupfte an ihrem Polyesternachthemd. »Wenn ich in hundert Jahren einmal huste!« Ärgerlich murmelnd hatte sie sich schließlich ins Schlafzimmer getrollt, und er erschlaffte, urinierte endlich, ein wenig befriedigendes Rinnsal.
Am Hauptbahnhof wußte Emil nicht, ob der Parkplatz überhaupt noch in Betrieb war. Trotzdem ordnete er sich an der Heilbronner Straße ein. Der Bauzaun zog sich um die Trümmer des eingerissenen Nordflügels. Seit er zum letzten Mal hier gewesen war, hatten sich die Botschaften vervielfacht. Reisende standen mit ihren Koffern davor, lesend oder im Gespräch. Peter sah auf und schüttelte den Kopf. Er weigerte sich auszusteigen.
»Ich kann da nicht hingehen. Alle werden nach den Jungs fragen, die waren bei den Leuten im Park bekannt wie bunte Hunde. Ich halte das nicht aus.« Emil spielte mit dem Schlüssel, ließ den Elefanten klingeln.
In den letzten Wochen hatte Peter nur wenige Sätze über Mia und die Kinder verloren, karg und ungeformt, als strenge es ihn an, sich zu erinnern. Seine Geschichte war derart banal, daß Emil nicht begriff, wie sie ausgerechnet Peter passieren konnte. Seine Reden ergänzten den Bericht einer sehr betrunkenen Veronika aus ›einem verwünschten Etzelweg‹ und die fassungslosen Auskünfte Carlas: »Unerhört, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Natürlich ist Peter ein Schaf. Er hätte sich sofort einen Anwalt nehmen müssen. Väter haben inzwischen mehr Rechte. Aber sie ist anscheinend einfach auf und davon. Niemand weiß, wo sie sind.«
Einen Vormittag lang hatte Emil sich damit beschäftigt, Mias Namen durch das Internet zu jagen. Er wollte ein Wunder bewirken, wo alle anderen versagten. Dabei war er stets auf die gleichen mageren Einträge gestoßen. Auf der Seite ihres Arbeitgebers fand er ihr ovales, von dunklem Haar umgebenes Gesicht, fremd über einer blauen Bluse, hellem Blazer und Ansteckblume. Sanitas-Akademie, Schule für Gesundheitsberufe, darunter eine Telefonnummer. Am anderen Ende meldete sich die Stimme einer Kollegin. Die Frau reagierte auf seine Fragen mit deutlicher Gereiztheit: Sie sei nicht befugt, irgend jemand Auskunft über die Frau Müller zu geben. Da könne ja jeder kommen. Mias Mailadresse schleuderte Emil eine Abwesenheitsnotiz entgegen. Immer wieder rief er im Etzelweg an. Das Tuten des Freizeichens hielt er nicht länger als eine Minute aus.
Das einzige vernünftige Gespräch, das Emil im Laufe dieses Morgens führte, war das mit der logopädischen Praxis in der Schlosserstraße. Er hatte sich als Dr. Hans-Jochen Rau gemeldet. Peters Kollegin, deren Stimme zuerst warm und freundlich gewesen war, hatte sich laut geräuspert. »Ich bin in einer unmöglichen Situation. Peter ist einfach nicht mehr erschienen. Einmal hat er angerufen und mir gesagt, er könne jetzt nicht in die Praxis kommen, seine Kinder kämen jeden Moment zurück, und er müsse auf sie warten. Von einem Tag auf den anderen. Ich kenne ihn so lange. Es war mir schon länger klar, daß er nie voll einsteigen wird. Er wollte immer seine Freiheit behalten, aber er konnte sehr gut mit Kindern umgehen, auch mit alten Leuten, Schlaganfallpatienten. Sogar nach Heslach bin ich gefahren, habe Sturm geklingelt, über eine halbe Stunde vor seiner Tür gewartet. Seine Nachbarn haben mir Kaffee angeboten und einen Stuhl, aber sie wußten auch nichts. Unmöglich war das. Seine Patienten, seine Gutachten, er hat mich auf allem sitzenlassen. Ich habe jetzt eine Bekannte eingestellt, sonst hätte ich die Praxis nicht halten können. Seine ganzen Sachen, Akten, Bücher, Materialien, das liegt alles noch hier im Keller. Es ist ein Jammer.«
»Wo sind wir?« fragte Peter plötzlich, und Emil zuckte zusammen. »Auf der Neckarstraße«, antwortete er eifrig. Peter öffnete das Handschuhfach, nahm ein Päckchen Zahnpflegekaugummi heraus und drehte es zwischen den Fingern. »Mit den Jungs bin ich oft in die Wilhelma gegangen. Wir haben Proviant mitgenommen und sind bis zum Nachmittag geblieben. Das haben Papa und ich am Wochenende auch immer gemacht. Um acht waren wir dort, spätestens um elf wieder zu Hause. Da wartete die Abrechnung. Waschkörbe voller Karteikarten. Grüne Reiter für die Ortskrankenkassen,
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