Am Schwarzen Berg
als eine halbe Stunde hielt sie es nicht bei ihm aus. Hajo war, seitdem er den Beutel mit der Infusion an der Kinderzimmerwand aufgehängt hatte, damit beschäftigt, eine Therapie für seinen Sohn zusammenzustellen, an deren Gerüst er akribisch und pflichtbewußt zimmerte. Er hatte ein Antidepressivum verordnet und überwachte die Einnahme der Tabletten. Auf dem Eßtisch lag ein liniertes Schulheft, wahrscheinlich aus Carlas unerschöpflichen Beständen. Auch wenn Hajo in seiner Praxis längst alle Daten digitalisiert hatte, und dies nicht ohne Begeisterung, kehrte er jetzt zu Papier und Kuli zurück. In einer schwungvollen, gut lesbaren Schrift, deren Druck das Papier wellte, notierte er neben Blutdruck und Gewicht jeden Bissen, den Peter aß, die Behandlung seines Ausschlags auf dem Rücken mit einer antibiotischen Salbe, die genaue Flüssigkeitsmenge, die Medikamentendosis und sein allgemeines Befinden. Dabei kennzeichnete er die schlechten Phasen mit Minusstrichen, die guten mit Pluszeichen. Bis jetzt überwog das Minus. In der Küche neben dem Kühlschrank hatte er zwei gläserne Kannen aufgestellt, die er jeden Morgen zur Hälfte mit Leitungswasser, zur Hälfte mit Apfelsaft füllte. Carla mußte darauf achten, daß sie bis zum Abend geleert waren. Als nächstes wollte er mit Peter im Wald joggen, wenn dieser wieder kräftiger war. Es sollte langsam anfangen, jeden Tag fünf Minuten länger. Bewegung sei enorm wichtig zur Unterstützung der medikamentösen Therapie, das sei lange Zeit unterschätzt worden, hatte Hajo Emil erklärt. Beim Sport schütte der Körper Stoffe aus, die stimmungsaufhellend wirkten.
Zwischen Carla und Veronika hatte sich im Laufe der letzten Wochen eine Art Abendritual herausgebildet. Veronika besuchte Peter, wenn sie aus der Bücherei kam, und saß eine Weile bei ihm. Ging sie, kam Hajo herein und nötigte Peter in die Dusche, auf die Waage oder zum Essen. Carla begleitete Veronika hinaus. Veronika öffnete das Gartentor und stand mit einem Fuß auf dem Weg. Die beiden Frauen blieben oft eine halbe Stunde oder länger vor dem Haus stehen. Meistens war es Carla, die sprach: Veronika erfuhr, daß Peter wieder mehr aß und gegen Mittag aufstand, um die Fische zu füttern. Carla klagte darüber, wie hilflos sie sich angesichts von Hajos Aktivitäten fühlte.
»Er macht es genauso wie bei seinen Patienten. Es ist derselbe Kümmerer-Reflex. Regelmäßigkeit, Disziplin und Fürsorge. Ich bin bei dir. Wir schaffen es gemeinsam. Er glaubt, es hilft ihnen, wenn er sie überwacht. Und soll ich dir was sagen? Es klappt fast nie. Sie können nicht aufhören zu fressen oder zu saufen. Haben alle möglichen Ausreden, kommen irgendwann nicht mehr. Und dann ärgert er sich, zweifelt an sich selbst und kann einfach nicht verstehen, wie man so schwach sein kann. Er würde es schaffen. Das habe ich selbst gesehen. Bevor Peter kam, hat er gequalmt wie ein Schlot. Jeden Tag zwei Schachteln, da war er ja noch in der Klinik. Sie haben ihn damit aufgezogen, daß er am liebsten noch im OP rauchen und den Leuten in die offenen Bäuche aschen würde. Dann hat er von einem Tag auf den anderen aufgehört. Jetzt ist er davon überzeugt, daß er Peter auch wieder hinkriegt. Wenigstens tut er was, er hat einen Plan. Und ich? Muddi steht am Herd und macht den Wachhund.«
Peter ließ sich in den Beifahrersitz schieben. Emil unterdrückte den Impuls, seinen Kopf zu umfassen, um ihn vor dem Zusammenprall mit dem Türrahmen zu schützen, wie ein Polizist im Fernsehkrimi, der den Gauner auf die Rückbank zwingt. Mechanisch griff Peter nach dem Gurt, ließ das glänzende schwarze Band über seine Brust laufen, die Schließe rastete ein. Emil schloß die Tür von außen.
Carla war im Haus. Emil hörte das Radio aus dem geöffneten Schlafzimmerfenster. Sie mußte es voll aufgedreht haben, denn er erkannte Cat Stevens heitere Stimme und blieb kurz stehen. Oh baby, baby, it’s a wild world, it’s hard to get by just upon a smile, girl , dann heulte der Staubsauger auf. Emil wandte sich ab und stieg ein. Sollte er ihr Bescheid sagen? Sie würde vor Angst verrückt werden. Er konnte von unterwegs anrufen. Das Handy lag irgendwo auf dem Rücksitz, er wollte jetzt keine Zeit verlieren.
Während Peter ächzend auf dem fleckigen Polster herumrutschte, tastete Emil unter den Fahrersitz. Er fühlte die glatten Umrisse der Flasche, die Veronika dort versteckt hatte. Hinter den gerillten Glaswänden gluckerte es leise, als er sie
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