Am Schwarzen Berg
anschließenden Ruck, mit dem sie sich vom gemauerten Pfosten des Gartentors abstieß wie ein Schwimmer vom Rand des Bassins.
8 Ganz gegen seine Gewohnheit schloß Emil das Haus ab. Unter den Zwetschgenbäumen stand der Audi, die Windschutzscheibe bekleckert vom violetten Holunderkot der Amseln. Gelber Staub puderte das Glas. Es hatte schon lange nicht mehr geregnet. Emil fischte vertrocknetes Laub unter den Wischerblättern hervor. Veronika hatte heute morgen kurz nach dem Aufstehen beschlossen, Bus und Bahn zu benutzen: »Ich habe den Eindruck, ich bewege mich überhaupt nicht mehr.« Früher als sonst stürzte sie auf breiten Korkabsätzen aus dem Haus. Emil registrierte, daß sie noch im Flur ihre Sonnenbrille aufsetzte, das Gartentor nicht wie üblich ins Schloß knallte, sondern behutsam zuklinkte und auf das Display ihres Handys starrte, während sie am Nachbarhaus vorübereilte.
An Emils Autoschlüssel baumelte ein silberner Elefant, in dessen Bauch ein Glöckchen rumorte. Olga Sucher hatte ihm den Anhänger am Straßburger Bahnhof geschenkt, hastig von ihrem eigenen Bund abmontiert, an dem so viele Schlüssel klingelten, daß Emil unwillkürlich länger hinschaute. Mit einem Kopfschütteln hatte sie die Schlüssel in ihrer Handfläche aufgefächert und ihm zugelächelt. Ihre Finger waren feucht. Metallgeruch stieg von Olgas blassem Handteller auf. Emil war sich sicher, daß ihre Haut salzig und rostig zugleich schmeckte. Er hätte die Kuhle gerne säuberlich ausgeleckt. Olga legte den Kopf schief. »Sieht nach großer Verantwortung aus, oder? So viele Leute, um die ich mich kümmern muß. Alles Tarnung. Manchmal schaffe ich es sogar, mich selbst damit reinzulegen. In Wahrheit ist es immer nur Olga.«
Sie tippte die einzelnen Schlüssel nacheinander an. Einige waren oben mit bunten Gummiringen eingefaßt. »Mein Auto, das ist klar. Die Schulparkplatzschranke, der Generalschlüssel, das Lehrerzimmer. Mein Briefkasten. Meine Wohnung, die du nicht betreten willst. Mein Keller voller alter Briefe und häßlicher Vasen. Das hier ist die Seidenstraße, da habe ich mit meinem Exmann gewohnt. Sehr schön, Kastanie im Hof, zahme Eichhörnchen. Es ist ihm vollständig entfallen, daß ich noch immer bei ihm ein und aus gehen könnte. Er hat längst wieder geheiratet, so eine breithüftige Juristin aus Bayern, sie haben zwei Kinder. Die Wohnung meiner Eltern, mit Keller und Speicher. Die Wohnung meiner Großmutter, mit Trockenboden. Alle längst tot, und ich bring es nicht fertig, ihre Schlüssel wegzuwerfen.«
Am Schwarzen Berg sah Emil dem Elefanten in die Glasaugen und fragte: »Wollen wir den Peter holen?«
Peter saß hinter dem Haus seiner Eltern in einem Liegestuhl. Die Markise über der Terrasse war heruntergekurbelt. Emil roch den leichten Ölgeruch des erhitzten Stoffs, bemerkte, daß ein dunkelbraunes Frotteehandtuch über die Sitzauflage gebreitet war. Tempotaschentücher, eine Thermoskanne, Zeitschriften, ein Stück Träubleskuchen standen auf dem Tisch daneben. In den Hohlräumen der aufgeplatzten Baiserkruste krochen Wespen herum. Ihre prächtigen schwarzgelben Leiber bewegten sich leicht auf und ab, während sie mit den Gebißzangen süße Krümel herausrissen. In einem Strauß purpurner Flockenblumen brummten Hummeln. Peter hatte ein beigefarbenes Polohemd mit abgestoßenem Kragen an; Hajo trug es manchmal bei der Gartenarbeit. Peter saß vorgebeugt, als bete er. Die Hände hielt er im Schoß gefaltet. Sicher hatte er das Quietschen des Gartentors gehört, doch er sah nicht auf. Emil zögerte. Er mußte sich jedesmal überwinden, diesen teilnahmslosen, völlig fremden Mann anzusprechen, dessen Blick, rot und trüb, sich nur langsam, fast unwillig von dem unbekannten Punkt löste, den er stundenlang fixierte. In seinem Beruf hatte sich Peter eine überdeutliche Aussprache antrainiert. Er nuschelte nie und redete auch lauter als andere. Davon war nichts mehr übrig. Wenn er sprach, leierte er leise vor sich hin. Es gab ein paar wenige Satzmuster, in die seine ganze Existenz paßte: Ich kann nicht, ich will nicht, das hat doch keinen Sinn.
Emil zog die Schultern nach hinten und ging rasch auf Peter zu. »Peter, laß uns in die Stadt fahren. Wir suchen deine Kinder. Komm. Ich habe das Auto.« Er griff nach Peters Händen. Er ließ sich hochziehen. Emil fühlte die Schwere des Körpers, der ein Stück größer war als er selbst. Peter wehrte sich nicht. Einen Moment lang stand er schwankend, und Emil
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