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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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ihm meinen Brief wirklich gegeben haben«, sagte sie an diesem zweiten Mittwoch im Gerichtssaal, als ich mich gerade auf meinem Platz herumdrehte und nach rückwärts blickte, zur Gruppe der Pressevertreter.
    War ich deshalb hierhergekommen? Hatte ich etwa gehofft, Robert wiederzusehen? War das der Grund, weshalb ich schließlich doch nachgegeben und eingewilligt hatte, einen weiteren Tag im Gerichtssaal zu verbringen?
    O Gott, dachte ich schaudernd, ich bin ja genauso schlimm wie meine Schwester.
    »Glaubst du, das würden sie tun?« fragte Jo Lynn gerade.
    »Was?«
    »Ihm meinen Brief unterschlagen.«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete ich zerstreut.
    »Meiner Ansicht nach wäre es gesetzeswidrig«, fuhr sie fort, »jemandem seine Post nicht auszuhändigen. Ich meine, ich habe ihm einen Brief geschrieben, den ich ihnen anvertraut habe, und ich denke doch, daß es ihre gesetzliche Pflicht ist, dafür zu sorgen, daß er ihn bekommt. Meinst du nicht auch?«
    »Ich habe keine Ahnung.« Mein Ton war ungeduldig. Ich hörte es. Jo Lynn auch.

    »Was ist eigentlich los mit dir? Du bist wohl enttäuscht, daß dein Freund nicht da ist?«
    Ich fuhr herum, wütend, puterrot im Gesicht. »Mußt du eigentlich immer so albernes Zeug reden?«
    »Aha, ich hab wohl einen Nerv getroffen, was?«
    Die Tür vorn im Saal wurde geöffnet, der Gefangene wurde hereingeführt. Er sah sich um, nahm mit einem Blick den ganzen Gerichtssaal auf. Jo Lynn winkte, ein leichtes Klimpern der Finger, und warf ihm verstohlen einen Handkuß zu. Colin Friendly verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, als er die Hand hob, um den unsichtbaren Kuß aufzufangen, und seine Finger sich um ihn schlossen wie um den Hals eines jungen Mädchens. Er trug denselben blauen Anzug wie am vergangenen Mittwoch, diesmal jedoch war das Hemd weiß und die Krawatte dunkelblau, und ich überlegte, ob er jeden Tag ein frisches Hemd und eine frische Krawatte bekäme, und wenn ja, wer ihm die Sachen zur Verfügung stellte. Ich dachte daran, Jo Lynn danach zu fragen, ließ es dann aber lieber sein. Sie hätte es wahrscheinlich zum Anlaß genommen, eine Bemerkung über meine eigenen Kleider zu machen. Die Tatsache, daß ich ein leichtes, geblümtes Kleid trug, das eigentlich für förmlichere Anlässe gedacht war, hätte sie zweifellos als Zeichen dafür interpretiert, daß ich gehofft hatte, Robert zu treffen.
    Jo Lynn selbst hatte einen tief ausgeschnittenen weißen Pulli und einen Minirock aus schwarzem Leder an. Ihr Haar war frisch gewaschen und fiel ihr in einer blondgelockten Mähne auf die Schultern. Mehr als einmal sah ich, wie die Leute die Hälse nach ihr reckten. Jo Lynn, allem Anschein nach ganz auf den Angeklagten konzentriert, schien es nicht zu bemerken, aber ich wußte, daß sie sich der Aufmerksamkeit, die sie erregte, wohl bewußt war. Und daran, wie sie den Kopf warf und sich immer wieder das Haar aus dem Gesicht schnippte, sah ich, daß sie sie genoß.
    Sie genoß hier, im Gerichtssaal 11a, eine gewisse Berühmtheit. Immer wieder sprachen die Leute sie an, fragten sie nach ihrer
Meinung zum Lauf der Verhandlung in den vergangenen Tagen. Sie wollten wissen, ob sie glaube, daß Colin Friendly selbst in den Zeugenstand treten würde, und ob sie das für ratsam hielte. Es erstaunte mich, in welch bestimmtem Ton sie Antwort gab, wieviel Gewicht ihrer Meinung beigemessen wurde. Sie hatte sich immer darüber beschwert, daß ich sie nicht ernst genug nähme, und vielleicht hatte sie damit recht.
    Der Pathologe nahm wieder seinen Platz im Zeugenstand ein. Er war ein kompakter kleiner Mann, nicht größer als einen Meter sechzig, mit dunklem Haar und einem länglichen Gesicht, das den Eindruck machte, als wäre es zwischen die Türen eines Busses geraten. Seine Züge wirkten zur Mitte des Gesichts hin zusammengepreßt, die Nickelbrille ritt ungeschickt auf dem schmalen Rücken seiner Nase. Er hieß Ronald Loring und war ungefähr fündundvierzig. Jünger als ich, dachte ich.
    »Wir haben heute nicht mehr allzu viele Fragen an Sie, Dr. Loring«, begann der Staatsanwalt, während er den obersten Knopf seines braunen Nadelstreifenjacketts schloß und an den Zeugenstand herantrat.
    Dr. Loring nickte.
    »Sie haben ausgesagt, daß die Opfer alle vergewaltigt worden waren, ist das richtig?«
    »Ja, das ist richtig.«
    »Wurde bei den Opfern Sperma gefunden?«
    »Ja, bei den Leichnamen, die noch hinreichend erhalten waren, haben wir Sperma gefunden.« Er zählte die Namen

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