Am Seidenen Faden
ob wir Freitag in acht Tagen schon was vorhaben.«
»Ich glaube nicht. Warum? Was gibt’s denn?«
»Ein hochzufriedener Kunde hat uns zum Abendessen eingeladen.«
»Klingt gut.«
»Schön, ich werde ihm sagen, daß er mit uns rechnen kann.« Anstatt auf Wiedersehen zu sagen, sagte er: »Ich liebe dich, Funny Face.«
»Ich dich auch.«
Ich legte auf. »Okay, und jetzt rufst du sofort Robert Crowe an und sagst dieses Mittagessen ab. Schluß mit diesem Quatsch. Wenn er dir etwas Interessantes vorzuschlagen hat, kann er das auch am Telefon tun.«
Die Tür zu meinem Wartezimmer wurde geöffnet und wieder geschlossen. Ich warf einen Blick auf meine Uhr, dann auf meinen Terminkalender. Sally und Bill Peterson waren früh dran, und ich war in Verzug. Nicht die beste Kombination. Eilig wollte ich mein Sweatshirt ausziehen und verwurstelte mich irgendwie darin. »Geschieht dir recht«, murmelte ich. Gleichzeitig hörte ich, wie die Tür zu meinem Sprechzimmer geöffnet wurde, und zerrte mir mit Gewalt das Sweatshirt über den Kopf. Wie kamen diese Leute dazu, unangemeldet und unaufgefordert hereinzukommen?
»Mutter!« rief ich verblüfft.
Sie wich an die Wand zurück. Ihr Gesicht war so grau wie ihr ungekämmtes Haar, ihre Augen furchtsam aufgerissen.
»Mutter, was ist denn passiert? Was ist los?«
»Ich werde verfolgt.«
»Was?«
»Ich werde verfolgt«, wiederholte sie und sah sich dabei ängstlich im ganzen Zimmer um.
»Wer verfolgt dich denn? Was soll das heißen?«
»Ein Mann. Er verfolgt mich schon die ganze Zeit. Er ist mir hier ins Haus gefolgt.«
Im nächsten Moment war ich draußen im Korridor und blickte hastig nach rechts und links. Es war niemand da. Ich ging auf dem rosenholzfarbenen Teppich den Flur hinunter, am Aufzug vorbei, näherte mich vorsichtig dem Treppenhaus am hinteren Ende und riß mit einem Ruck die Tür auf. Auch hier war keine Menschenseele. Ich hörte, wie die Aufzugstür sich öffnete, sah eine attraktive junge Frau aussteigen. Sie warf mir einen argwöhnischen Blick zu, als sie an mir vorübereilte. Erst da wurde mir bewußt, daß ich nur meine Trainingshose und einen Büstenhalter anhatte. »Und ich bin Therapeutin«, sagte ich laut zu mir selbst.
»Da draußen ist niemand«, erklärte ich, als ich in mein Zimmer trat und nach meinem Sweatshirt griff, um es wieder überzuziehen. Ich sah mich um. Meine Mutter war nirgends zu sehen.
»Mutter?« Ich trat in den schmalen Flur. »Mutter, wo bist du?« Ich stieß die Tür zu meinem kleinen Büro auf, in der Erwartung, sie dort am Fenster stehen und die majestätischen Palmen am Royal Palm Way betrachten zu sehen. Aber sie war nicht da. »Mutter, wo bist du?« War sie überhaupt hier gewesen? Oder hatte mein schlechtes Gewissen ihr Bild heraufbeschworen, um mich zur Vernunft zu bringen?
Dann hörte ich plötzlich das Wimmern. Stockend, unterdrückt, als wollte es nicht gehört werden. Es waren Laute aus meiner Vergangenheit, an die ich mich trotz der vielen Jahre, die vergangen waren, nur zu gut erinnerte. Wie erstarrt blieb ich stehen.
»Mama?«
Ich fand sie hinter der Bürotür. Sie hockte in der Ecke wie ein Häufchen Elend, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, das Gesicht tränennaß, die Augen schmale Schlitze, der Mund eine große offene Wunde. Ich rannte zu ihr, kniete neben ihr nieder, nahm sie in die Arme. Sie zitterte so heftig, daß ich nicht wußte, was ich tun sollte.
»Es ist ja gut, Mama. Es ist gut. Da draußen ist kein Mensch. Du bist ganz sicher. Es ist gut. Du bist in Sicherheit.«
»Aber er war da. Er ist mir gefolgt.«
»Wer denn, Mama? Weißt du, wer es war?«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Jemand aus dem Heim?«
»Nein. Es war jemand, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.«
»Und du bist sicher, daß er dir gefolgt ist? Vielleicht ist er nur zufällig in dieselbe Richtung gegangen.«
»Nein«, beharrte sie. »Er hat mich verfolgt. Jedesmal, wenn ich mich umgedreht habe, ist er stehengeblieben und hat so getan, als schaute er in ein Schaufenster. Wenn ich langsamer gegangen bin, ist er auch langsamer gegangen. Und wenn ich schneller gegangen bin, ist er auch schneller gegangen.«
Ich überlegte, ob ich die Polizei anrufen sollte. Weshalb sollte jemand meine Mutter verfolgen? »Warst du vielleicht grade auf der Bank?« fragte ich. Alte Frauen waren ja für Diebe und Räuber leichte Beute. Nur war ihre Bank ganz in der Nähe des Heims, das Meilen entfernt drüben, auf der anderen Seite der Brücke
Weitere Kostenlose Bücher