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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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sie denen niemals genügen kann.«
    »Hat Sara dir das erzählt?«
    »Nicht direkt, aber wir haben sehr viel über dich gesprochen. Ich verstehe sehr gut, was sie durchmacht.«
    Angst durchzuckte mich wie ein Messerstich mitten ins Herz. »Das einzige, was ich von Sara erwarte, ist, daß sie regelmäßig zur Schule geht und sich halbwegs umgänglich benimmt.«

    »Das ist nicht wahr. Sie soll genauso sein wie du.«
    »Nein, das stimmt nicht.«
    »Aber sie glaubt es.«
    »Aber es ist nicht wahr. Ich möchte nur, daß sie …«
    »… glücklich ist?« sagte Jo Lynn mit der Stimme unserer Mutter. »Nein – sie soll dich glücklich machen. Michelle macht dich glücklich, weil sie genau wie du ist. Sie hat die gleiche Art wie du. Sie will die gleichen Dinge wie du. Aber Sara ist anders, und du mußt sie ihr eigenes Leben leben lassen.«
    »Wieso sprechen wir eigentlich über Sara?« fragte ich gereizt.
    Jo Lynn zuckte die Achseln und sah weg.
    Der Gerichtssaal begann sich zu füllen. Es wurde langsam unangenehm warm. Ich öffnete die Knöpfe meiner Jacke und fächelte mein Gesicht mit der Broschüre, die ich am Informationsschalter im Foyer mitgenommen hatte.
    »Also, worüber machst du dir Gedanken?« fragte Jo Lynn, als wollte sie mich herausfordern zu beweisen, daß auch ich ein Mensch war.
    »Ich mache mir über die Kinder Gedanken«, antwortete ich ihr. »Und über Mutter.«
    »Ach, die wird uns alle überleben«, versetzte Jo Lynn wegwerfend. »Außerdem ist das viel zu gewöhnlich. Sag mir irgendwas Verrücktes, worüber du dir Gedanken machst, irgendwas, das völlig blödsinnig ist.«
    »Ich hab manchmal Angst, daß die Wörter plötzlich ihre Bedeutung verlieren könnten«, hörte ich mich sagen, überrascht, daß ich diese Gedanken laut aussprach. »Daß ich in einem Buch oder einer Zeitung lese und die Wörter keinen Sinn ergeben, so, als läse ich in einer Fremdsprache.«
    »Ja, das ist ziemlich verrückt«, meinte Jo Lynn, offenbar befriedigt.
    »Und ich habe Angst davor, daß eines Tages von mir selbst nichts mehr übrig sein wird«, fuhr ich fort, obwohl ich spürte, daß ihr Interesse schon abflaute, ihre Aufmerksamkeit abschweifte. »Daß ich hier gebe und dort gebe und am Ende des
Tages nichts mehr für mich selbst da ist, nichts mehr von mir selbst da ist.« Daß ich eines Morgens in den Spiegel blicken werde, fügte ich für mich hinzu, und kein Spiegelbild mich ansehen wird.
    »O Gott! Da ist er«, sagte Jo Lynn. Sie sprang auf und winkte mit beiden Armen.
    Wie ein Vampir, dachte ich noch, ehe ich aus meinen Gedanken gerissen wurde und meine Aufmerksamkeit auf den lebensechten Vampir richtete, der durch die Tür neben dem Richtertisch trat, ein gutaussehender Mann im konservativen blauen Anzug, meinem eigenen Ehemann nicht unähnlich, ein Mann, dessen größte Lust es war, wehrlosen Frauen und Mädchen das Lebensblut auszusaugen. Und dieser Mann lächelte meine Schwester an.
    Der Gerichtsdiener kündigte das Erscheinen des Richters an, wir standen alle auf, der Richter nahm seinen Platz ein. »Ist die Verteidigung bereit?« fragte er.
    Jake Armstrong hatte sich schon erhoben und knöpfte sein beigefarbenes Jackett zu. »Wir sind bereit, Euer Ehren.«
    »Dann rufen Sie Ihren ersten Zeugen auf.«
    Ein kollektives Luftholen ging durch die Reihen, da alle gespannt waren, wer dieser Zeuge sein würde.
    Der Anwalt atmete seinerseits tief durch und sagte dann: »Die Verteidigung ruft Colin Friendly als Zeugen auf.«

15
    »Bitte nennen Sie uns Ihren Namen.«
    Der Angeklagte beugte sich zu dem schlanken schwarzen Mikrofon vor dem Zeugenstand und sprach mit leiser Stimme, während sein Blick einmal durch den Saal schweifte, bevor er bei den Geschworenen zur Ruhe kam.
    »Colin Friendly.«

    »Ist es richtig, daß Sie Ihren gewöhnlichen Wohnsitz in der 10. Straße Nummer 1500 in Lantana, Florida haben?«
    »Ja, Sir. Ich hatte dort eine Wohnung, bevor ich festgenommen wurde.« Seine Stimme war angenehm, melodisch, ohne ausgeprägten Akzent. Er sprach langsam und achtete darauf, jedes Wort deutlich auszusprechen.
    »Was für einen Beruf haben Sie, Mr. Friendly?«
    »Ich habe in einer Firma für Imprägniermittel gearbeitet.«
    »In welcher Position?«
    »Ich war Vorarbeiter.«
    »Wie viele Stunden haben Sie da täglich gearbeitet?«
    »Das hing ganz vom Arbeitsanfall ab. Im allgemeinen von acht bis vier. Manchmal auch länger.«
    »Fünf Tage die Woche?«
    »Manchmal auch sieben«, sagte Colin Friendly. »Es

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