Am Sonntag blieb der Rabbi weg
Hände trichterförmig zusammenlegte, um den Lichtkegel zu demonstrieren. «Dann treten der Reihe nach die vier Söhne auf. Erst der Kluge, vielleicht mit einer Brille und einem Buch oder mit einem Rechenschieber in der Hand. Er blickt auf und stellt seine Fragen, aber auf eine moderne Art. Er könnte etwa sagen: ‹Das ist aber komisch, Paps. Warum verlangt der Herrgott von uns, dass wir das ganze Theater machen?› Und den Bösen stell ich mir in einer schwarzen Lederjacke vor, mit Schildmütze und Sonnenbrille – oder er kann auch als Hippie auftreten: barfuß, mit Halsketten und langem Haar und verwaschenen Jeans.» Er schlurfte lässig durchs Zimmer, den Kopf seitw ärts geneigt, und nuschelte, als hinge ihm eine Zigarette im Mundwinkel: «‹He, wozu habt ihr euch so rausgeputzt? Verrückt, Mensch, völlig besoffen!› … Verstehen Sie, wie ich’s meine?»
«Ja, aber wie hilft Ihnen das aus der Klemme?»
«Na, wir haben einfach mehr Auswahl bei den älteren Kindern. Der Edelstein-Junge könnte zum Beispiel den Bösen spielen – d en Einzigen, der im Kostüm auftritt … Das wird den Eltern lieblich eingehen!»
«Wie wär’s mit einer Rock-and-Roll-Band für die Lieder?»
«Tolle Idee, Rabbi!»
«Nein, Morton, nein!», wehrte der Rabbi energisch ab. «Wir wollen einen traditionellen Seder abhalten. Die Blumenthals und Feldbergs werden sich damit abfinden müssen.» Er stand auf und ging zur Tür. «Ich muss jetzt wirklich gehen.»
«Lassen Sie sich’s übers Wochenende nochmal durch den Kopf gehen, Rabbi», beharrte Brooks.
«In jeder freien Minute», versprach der Rabbi sarkastischer, als es sonst seine Art war.
Aber Brooks ließ sich nicht so leicht abwimmeln. «Im Ernst, Rabbi; man kann doch die Zeremonie ein wenig auflockern, damit die Kinder auch was davon haben. Das tun sie doch alle jetzt – die Katholiken und alle anderen. Sie halten sogar die Messe bei Jazzmusik. Schließlich ist der Seder eine Feier. Warum sollen da die Kinder nicht ihren Spaß haben?»
Der Rabbi blieb in der Tür stehen. «Weil der Seder mehr ist als eine bloße Feier, Morton. Es ist ein Ritual, bei dem jeder Verrichtung eine bestimmte Absicht zugrunde liegt. Der Sinn eines Rituals ist ja gerade, dass alles immer gleichförmig wiederholt wird, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Jetzt muss ich aber wirklich gehen.»
Draußen blieb er stehen und vergewisserte sich, dass die Fenster des Arbeitszimmers geschlossen waren. Dabei fiel ihm auf, dass auch die Außenfront des Gebäudes verwittert war. Die Säulen aus rostfreiem Stahl, die laut Architekt Christian Sorenson ‹ die Reinheit der Religion und ihre Widerstandsfähigkeit gegen die Unbill der Zeit› symbolisieren sollten, waren von der salzhaltigen Luft schmutzig gelb angelaufen. Und die langen, mit weiß glasierten Ziegeln verkleideten Mauern, die zu beiden Seiten aus dem massigen, kubischen Gebäude vorsprangen, um in sanftem Bogen auszulaufen – ‹wie ausgebreitete Arme, welche die Leute zum Gebet einladen› –, waren stellenweise abgeschlagen und zeigten schwarz klaffende Löcher wie Zahnlücken.
Auf dem Parkplatz wurde der Rabbi abermals aufgehalten. Als er in den Wagen steigen wollte, sprach ihn Wasserman an, der ehemalige Vorsteher der Gemeinde. Wasserman, der über siebzig war und erst vor kurzem eine Krankheit überstanden hatte, wirkte hager und zerbrechlich; dicke blaue Adern durchzogen die durchsichtige Hand, die er dem Rabbi auf den Arm legte. Er sprach leise und betont akzentfrei.
«Sie werden doch bei der Vorstandssitzung am Sonntag anwesend sein, nicht wahr, Rabbi?»
«Sicher. Wir wollen Samstagabend gleich nach Hawdalah aufbrechen – so um sechs. Dann sind wir um neun, spätestens zehn wieder zu Hause.»
«Sehr gut.»
Der Rabbi horchte auf. «Erwarten Sie denn etwas Besonderes?»
«Ich erwarte jeden Tag etwas Besonderes, vor allem aber am Sonntag, wenn Vorstandssitzung ist. Diesmal wird es wohl eine ernste Sache werden.»
«Warum ausgerechnet an diesem Sonntag?»
Wasserman hielt einen Finger hoch. «Weil am nächsten Sonntag der erste Seder- Abend ist und somit die Sitzung ausfällt.» Er streckte den zweiten Finger hoch. «Am Sonntag darauf ist wieder Feiertag, folglich wieder keine Sitzung. Wenn Gorfinkle also etwas Wichtiges im Sinn hat, muss er diesen Sonntag damit herausrücken, weil es drei Wochen lang keine Sitzung mehr gibt.»
«Und wenn er, wie Sie sagen, etwas Wichtiges im Sinn hat – wie kann ich ihn daran hindern, damit
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