Am Sonntag blieb der Rabbi weg
unwillkürlich lächeln – Hugh Lanigan, der Polizeichef von Barnard’s Crossing, ein umgänglicher, rotgesichtiger Ire, mit dem ihn seit Jahren etwas verband, was einer Freundschaft recht nahe kam … Vermutlich, weil keiner vom andern profitieren kann, dachte er sarkastisch. Natürlich, da war auch noch Jacob Wasserman; er nahm in der Gemeinde so etwas wie die Stellung eines Alterspräsidenten ein und war über kleinliche Streitigkeiten erhaben. Er hatte sich immer gut mit ihm verstanden, und der Rabbi schätzte die Einsicht und das gesunde Urteil des Alten. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fuhr er zu Wassermans Haus.
Als Mrs. Wasserman ihn erkannte, fasste sie ihn in ihrer mütterlichen Art am Arm und zog ihn ins Haus. «Kommen Sie, Rabbi, kommen Sie … Das macht doch nichts; die Teppiche trocknen schon wieder!», beruhigte sie ihn, als er kaum von dem Abtreter wegzubekommen war.
«Wer ist da?», rief ihr Mann. «Der Rabbi? Kommen Sie rein, Rabbi … Kommen Sie! Es muss was Ernstes sein, wenn Sie bei dem Wetter … Aber es ist schön, Sie wieder mal zu sehen! In letzter Zeit … Wissen Sie, ich kann nicht mehr so gut zum Minjan kommen; ich geh kaum noch aus dem Haus … Becker ist auch da. Er hat mit uns zu Abend gegessen … Wenn Sie mich unter vier Augen sprechen wollen, kann er meiner Frau in der Küche Gesellschaft leisten – ich bin nicht eifersüchtig. Aber wenn’s um Gemeindeangelegenheiten geht, kann er vielleicht auch dabeibleiben …»
«Keine schlechte Idee», sagte der Rabbi.
Der Alte führte ihn ins Wohnzimmer. «Wir haben Besuch bekommen, Becker», verkündete er. Und zu seiner Frau: «Bring doch dem Rabbi eine Tasse Tee!»
«Ich komme eben von Gorfinkle», berichtete der Rabbi und erzählte ausführlich, was vorgefallen war. Er hatte erwartet, die Nachricht würde wie eine Bombe einschlagen, doch die beiden nahmen sie erstaunlich gelassen auf.
«Er hat also gedroht, Ihren Vertrag im Herbst nicht zu verlängern?», wiederholte Becker, als wolle er sich vergewissern, dass er alles richtig mitbekommen hatte.
«Nein. Er will beantragen, ihn vorzeitig zu beenden.»
«Das geht doch nicht! Vertrag ist Vertrag … Außerdem muss der Vorstand erst darüber abstimmen.»
«Na und?» Wasserman zuckte die Achseln. «Da Gorfinkle die Mehrheit hinter sich hat, macht es keinen Unterschied, ob die Sache vor den Vorstand kommt oder nicht … Sie werden den Rabbi auszahlen. Ganz einfach.»
Der Rabbi erwartete, dass Becker auffahren würde, aber er sah nur Wasserman an und fragte: «Sagen wir’s ihm?»
Wieder zuckte der alte Mann die Achseln. «Warum nicht?»
«Es ist schon komisch», begann Becker, «dass Sie ausgerechnet heute Abend kommen, Rabbi … Meyer Paff war heute bei mir. Es sieht so aus, als ob sich die Gemeinde spalten würde, und Paff wollte Wasserman und mich für seine Partei gewinnen.»
«Und? Haben Sie ihm zugesagt?»
«Für uns ist es kein Problem, Rabbi. Als ehemalige Gemeindevorsteher gehören wir automatisch dem Vorstand an. Einer andern Gemeinde beizutreten, bedeutet für uns lediglich, auch dort den Mitgliedbeitrag zu zahlen. Als ich Vorsteher war, war ich gleichzeitig Mitglied in Lynn, und Jacob ist sogar in Lynn und Salem eingeschrieben … Aber dann kam das Gespräch auf Sie, Rabbi. Paff hat mich beauftragt zu fragen, ob Sie sich seiner neuen Gemeinde anschließen würden. Mit einem langfristigen Vertrag und höherem Gehalt. Jacob und ich sprachen gerade darüber, als Sie kamen.»
Der Rabbi sah Wasserman prüfend an; als der Alte keine Miene verzog, wandte er sich an Becker: «Ich hätte gar nicht gedacht, dass ich bei Mr. Paff so hoch im Kurs stehe.»
«Rabbi, ich will Ihnen nichts vormachen. Natürlich erkennt Paff an, was Sie hier geleistet haben; vor allem aber hofft er, dass Sie viele Mitglieder nachziehen werden … Nun, das kann Ihnen ja schließlich egal sein: Sie verbessern sich nur bei der Sache.»
«Sind Sie davon so überzeugt, Mr. Becker?»
«Sie würden sich um dreitausend Dollar im Jahr verbessern, wenn Sie’s genau wissen wollen. Und da fragen Sie noch? Erkundigen Sie sich doch mal bei Ihrer Frau – die muss täglich einkaufen!»
Der Rabbi ging nicht darauf ein. «Wie die Dinge liegen, Mr. Becker, bin ich der Rabbi der Juden von Barnard’s Crossing», sagte er. «Ich bin für alle da, nicht für eine bestimmte Gruppe. Und so fasse ich auch meine Aufgabe auf. Ein Rabbi ist nicht einfach Teil des Synagogenmobiliars.»
«Aber der Kantor
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