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Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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…»
    «Das ist etwas anderes. Ein Kantor braucht eine Synagoge oder zumindest eine Versammlung, um sein Amt auszuüben. Er kann sich doch nicht selber vorsingen. Ein Rabbi hingegen … Sehen Sie, wenn die Gemeinde hier wächst, wird wahrscheinlich eines Tages ohnehin eine zweite Gemeinde für die weniger Strenggläubigen entstehen, und ein Teil der Leute wird sich ihr anschließen. Natürlich werden sie auch einen eigenen Rabbi nehmen … Aber das ist eine Spaltung aus Anschauungsgründen und somit gerechtfertigt. Der neue Rabbi wird der Rabbi der liberalen Juden von Barnard’s Crossing sein, während ich der Rabbi der konservativen Juden bleiben werde.»
    «Aber in jeder Gemeinde gibt es solche Spaltungen!», wandte Becker ein.
    «Gewiss. Wenn nicht aus ideologischen Gründen, so aus geographischen – etwa, wenn eine Anzahl Leute in ein anderes Viertel umzieht, das weit von der Synagoge entfernt ist: Da es verboten ist, am Sabbat zu fahren, baut man eine neue Synagoge in der Nähe des neuen Wohnviertels. Das ist auch ein akzeptabler Grund … Aber die Trennung, die ihr plant, beruht weder auf ideologischen noch geographischen Gründen. Hier soll ganz einfach eine Art Konkurrenzunternehmen aufgezogen werden, und Sie finden, ich würde mich gut machen im Schaufenster des neuen Ladens … Nein, danke! Unter den Umständen würde ich meine jetzige Stelle auch aufgeben. Eine Synagoge ist kein Geschäft, das die Konkurrenz braucht, um in Schwung zu bleiben – und wenn Sie die Sache so anpacken, dann zwingen Sie Gorfinkle und seine Gruppe, genau das Gleiche zu tun: Kommt in unsere Synagoge – wir haben eine Klimaanlage und gepolsterte Sitze. Unser Kantor singt schöner, und unser Rabbi hält kürzere und flottere Predigten. Feiert eure Feste in unseren Räumlichkeiten – bei uns gibt’s Rabattmarken!»
    «Also, hören Sie, Rabbi …»
    «Mr. Paff braucht mich nicht. Eine Synagoge braucht keinen Rabbi, und ein Rabbi braucht keine Synagoge. Vorbeten und predigen sind nicht die wichtigsten Aufgaben des Rabbiners. Vorbeten kann jeder dreizehnjährige Junge, und Predigten sind für die meisten Leute nur eine willkommene Unterbrechung der Eintönigkeit des Gottesdienstes … Nein, Mr. Becker, ich habe nicht die Absicht, als zusätzliche Attraktion in Ihre Synagoge hinüberzuwechseln.»
    «Und wenn es Gorfinkle gelingt, Sie vor die Tür zu setzen?»
    Der Rabbi warf Wasserman einen fragenden Blick zu.
    Der Greis breitete die Hände aus. «In dieser Welt muss man zuerst fürs tägliche Brot sorgen, Rabbi. Paff bietet Ihnen eine Stelle an, mit mehr Gehalt sogar. Vielleicht sind die Bedingungen nicht ideal, schön … Wo sind sie schon ideal? Aber es ist doch eine Stelle!»
    Der Rabbi biss sich auf die Lippen. Er hatte angenommen, wenigstens Wasserman werde ihn verstehen … «Ist Barnard’s Crossing etwa der einzige Ort in der Welt, wo ich mein Brot verdienen kann? Nein, Mr. Wasserman; wenn es zu einer Spaltung kommt, werde ich hier keinen Vertrag annehmen – weder von Paff noch von Gorfinkle. Dann werde ich Barnard’s Crossing verlassen.»
26
    Der Regen hatte nachgelassen; ein leichter Nebel lag über der Straße. Stuart Gorfinkle war von Lynn, wo er seine Eltern abgesetzt hatte, auf dem Rückweg nach Tarlow’s Point.
    Ein wenig beunruhigt fragte er sich, ob die andern wohl irgendwo Unterschlupf gefunden hatten. Ob das Gewitter hier auch so heftig gewesen war wie auf dem Weg nach Lynn? Unter diesen Gedanken erreichte er die Halbinsel und stellte den Wagen ab.
    Der Strand lag verlassen. Leere Bierdosen, zurückgelassene Zellophantüten und sonstige Abfälle deuteten auf fluchtartigen Aufbruch hin.
    Dann bemerkte er den Pfeil auf dem Baumstamm. Langsam stieg er zum Haus hinauf, legte das Ohr an die Tür und horchte … Nichts. Er ging um das Gebäude herum zum Haupteingang und horchte abermals; dann klopfte er zaghaft an die Tür … Diesmal glaubte er, Geräusche zu hören.
    Er klopfte lauter und rief: «Ich bin’s – Stu … Seid ihr da drin?»
    Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und seine Freunde drängten sich um ihn.
    «Na, euch kann man ja suchen!»
    «Wir dachten, du kommst nicht mehr … Wir haben mit Lippenstift einen Pfeil gemalt. Hast du ihn gesehen?»
    «Wie seid ihr da reingekommen?», fragte Stu. «War das Haus offen?»
    «Nein; wir sind durch ein Hinterfenster eingestiegen.»
    «Dann verschwinden wir lieber hier», meinte Stu. «Der Streifenwagen kommt hier vorbei. Sie kontrollieren die leeren

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