Am Sonntag blieb der Rabbi weg
Kirchenglocken es dröhnt und dröhnt dröhnt rot ganz hell es.
24
Mr. Carters Blick wanderte langsam um den Abendbrottisch und blieb an dem leeren Platz zu seiner Rechten hängen. Seine Frau saß am unteren Ende des Tisches, die Kinder zu beiden Seiten; die beiden Jungen rechts, die beiden Mädchen links. Alle saßen sehr aufrecht, die Hände auf der Tischkante gefaltet, und warteten, dass er das Tischgebet spreche.
«Wo ist Moses?», fragte er.
«Er ist noch nicht zu Hause», murmelte seine Frau. «Er ist nach Boston gefahren, um sich für einen Job zu bewerben … Sicher isst er unterwegs etwas. Er hat gesagt, es kann später werden.»
«Hast du ihm nicht gesagt, dass er zum Abendbrot da zu sein hat? Er sollte es allmählich wissen. Wenn er aufgehalten wird, kann er anrufen. Wir haben schließlich das Telefon.»
«Bitte, Pa!», beschwor sie ihn. «Warum hackst du dauernd auf dem Jungen rum? Vielleicht war gerade kein Telefon in der Nähe. Oder er hat angerufen, und bei uns war besetzt. Die Mädchen hängen ja dauernd am …»
«Ich dulde es nicht, dass man in diesem Haus kommt und geht, wie es einem passt. Wir sind eine Familie, und wir bleiben eine Familie. Das verlangt die Moral. Wenn jeder plötzlich tut, was er will, fällt die Familie auseinander. Das Mahl ist ein Sakrament, und jeder in diesem Haus hat daran teilzunehmen.»
«Vielleicht wurde er von dem Gewitter überrascht», meinte seine Frau, «und hat gewartet, bis es vorbei war; als er merkte, dass es spät wurde, hat er sicher irgendwo einen Happen gegessen und ist dann direkt zur Kegelbahn gegangen … Ach übrigens – da fällt mir ein: Er hat irgendwas gesagt, dass er montags früher da sein muss …»
«Genug!», sagte ihr Mann. «Wir warten nicht länger. Ich spreche jetzt das Tischgebet. Wer später kommt, kriegt kein Essen. In meinem Haus isst keiner, ohne vorher den Segen gehört zu haben.» Er blickte in die Runde.
Alle Köpfe waren andächtig gesenkt.
Er faltete die Hände und schloss die Augen. Eine volle Minute lang verharrte er so; dann hob er den Kopf: «Herr, wir danken dir für deine Gnade und dass du uns Nahrung gibst, den Körper zu stärken, auf dass wir deine Arbeit verrichten. Wir haben deine Gebote befolgt; unser Mahl enthält nicht das Fleisch eines deiner Geschöpfe, nur die Früchte deiner Erde. Wenn wir gesündigt haben, so ist es, weil wir schwach und gedankenlos sind. Vergib uns, o Herr, und urteile gnädig über uns …» Dann murmelte er: «Ich danke dir, Gott; ich bin dein Diener, und ich werde gehorchen.»
Er öffnete die Augen und blickte um sich. «Nun wollen wir essen.»
Schweigend aßen sie; jeder war darauf bedacht, möglichst bald vom Tisch aufstehen zu können. Mr. Carter starrte missmutig und stumm auf seinen Teller. Als dann endlich abgetragen war, drückten sich die jungen Leute leise aus dem Zimmer.
Mr. Carter blieb sitzen, während seine Frau und die Mädchen in der Küche das Geschirr wuschen. Schließlich trat seine Frau ins Zimmer.
«Es gießt immer noch in Strömen, Pa», sagte sie. «Vielleicht sollte Michael den Wagen nehmen und sich in der Stadt nach Moose umsehen …»
Er sah sie an, und sie hatte Mühe, seinem Blick standzuhalten.
«Ich werde selbst nach ihm suchen», erklärte er.
«Ach, lass nur … Ich bin wohl ein bisschen überängstlich. Er wird sicher bald …»
Das Telefon klingelte.
«Das ist er!», rief Mrs. Carter.
Sharon ging zum Telefon. «Es ist die Kegelbahn», rief sie gleich darauf. «Sie wollen wissen, wo Moose steckt. Er ist nicht zur Arbeit gekommen.»
Mr. Carter zog den Regenmantel an und stapfte aus dem Haus. In der Garage wählte er eine anderthalbzöllige Latte aus dem Vorrat, der dort gestapelt lag, und ließ sie ein paar Mal prüfend durch die Luft sausen.
25
Der Rabbi ließ sich Zeit; er wollte Ordnung in seine Gedanken bringen, ehe er zu Hause ankam. Was sollte er Miriam sagen? Oder vielmehr, wie würde er es ihr sagen? Ziellos fuhr er durch die Stadt. Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe; die Scheibenwischer schafften es kaum. Von Zeit zu Zeit erhellten zuckende Blitze den finsteren Himmel, unmittelbar gefolgt vom Krachen des Donners. Es war unheimlich und zugleich faszinierend; es war eben das Richtige für den augenblicklichen Gemütszustand des Rabbis.
Er hätte sich gern mit jemand ausgesprochen, bevor er Miriam unter die Augen trat; es fiel ihm aber niemand ein, dem er sich anvertrauen mochte. Da war höchstens – er musste
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