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Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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Sitzung; und wir haben im Vorstand eine klare Mehrheit, wie Sie wissen … Man hat mir aufgetragen, mit Ihnen zu sprechen – in der Hoffnung, Sie zur Einsicht zu bringen. Deshalb habe ich heute Abend diese Aussprache herbeigeführt. Wenn ich nun meinen Freunden von dem Verlauf unseres Gesprächs berichte, wird man vermutlich beschließen, Ihnen den Rücktritt nahe zu legen.
    Natürlich können Sie dagegen angehen – aber wir wissen beide, dass es nicht sinnvoll wäre: Ein Rabbiner, der um seinen Posten kämpft und verliert, verbaut sich die Chance, je wieder eine andere Anstellung zu bekommen. Und Sie werden verlieren, das versichere ich Ihnen. Nach der nächsten Sitzung sind Sie nicht mehr Rabbi unserer Gemeinde.» Gorfinkle stand auf – das Gespräch war zu Ende.
    Auch der Rabbi erhob sich. «Ich habe mein Rabbinerdiplom nicht von Ihnen erhalten», sagte er, «und Sie können es mir nicht entziehen. Ich bin der Rabbi der Juden von Barnard’s Crossing; die Synagoge bezahlt mich, aber sie hat mich nicht gekauft. Im Übrigen, ein Rabbi braucht keine Synagoge, um seine Aufgaben zu erfüllen.»
    Draußen ertönte ein lautes, anhaltendes Hupen.
    «Das ist Stu …» Gorfinkle zuckte die Achseln. «Tut mir Leid, Rabbi», sagte er im Konversationston, «ich muss jetzt weg.»
23
    Wilcox saß mit offenem Kragen und gelockerter Krawatte im Lehnstuhl, die Beine auf einen Schemel hochgelagert. Er war mit sich und der Welt zufrieden. Er spürte es schon – es würde wieder ein berauschender Trip werden, jenseits von Zeit und Raum … Er hörte deutlich den langsamen, gleichmäßigen Gang der Zahnräder in seiner Armbanduhr. Und dann das Klingeln an der Tür. Wie Begleitmusik. Ein dunkles, drängendes Läuten. Er stand auf, um zu öffnen – ein abenteuerliches Unterfangen, bei dem jeder einzelne Körperteil seine Funktion hatte; es erinnerte ihn an ein kompliziertes Truppenmanöver – oder nein … an ein Ballett, bei dem Arme, Beine, Hände und Finger selbständige Rollen hatten, einer vorgegebenen Choreographie gehorchen mussten. Die Tür öffnen, den Besucher einlassen, zum Sessel zurückgehen – das alles schien Stunden zu dauern; dennoch ermüdete ihn die unerhörte Kraftanstrengung überhaupt nicht.
    Die Gestalt auf dem Stuhl gegenüber wuchs, wurde größer und größer wie ein Ballon beim Aufblasen. Dann schrumpfte sie wieder, wurde klein, immer kleiner, um plötzlich wieder anzuschwellen. Aber es war nicht beängstigend: es war eher komisch, sobald man dahinter kam, dass es sich bei dem seltsamen Phänomen um den alltäglichen Vorgang des Atmens handelte. Heftiges, stoßweises Atmen augenscheinlich; was aber nicht unlogisch erschien, wenn man eiliges Treppensteigen voraussetzte. Schweißtropfen glitzerten auf der Stirn: Wilcox sah sie alle gleichzeitig und beobachtete doch jeden einzelnen auf dem Weg vom Haaransatz zur ersten bremsenden Stirnfalte, die sich füllte, überlief … die zweite Stirnfalte … Dann verschwanden die Tropfen im struppigen Dschungel der Augenbrauen. Die Person sagte etwas; er verstand es genau, aber es war zu lächerlich, zu albern, um überhaupt darauf einzugehen. Den Wagen um die Ecke parken oder so was. Idiotisch. Wen interessiert das? Schwierigkeiten beim Finden der Türklingel, so. Und man muss eine Frau fragen, welche Klingel die richtige ist oder so ähnlich. Na und? Aber das komische Würstchen ist ärgerlich, das merkt man irgendwie. Man merkt es nicht nur, man spürt es. Auf der Haut spürt man es. Wie Brandung. Wie Wellen. Wellen der Abneigung. Unangenehm. Es soll aufhören … Wilcox sprach zu dem Gast, aber seine Stimme klang von weit her. Er setzte dem albernen Geschöpf alles ganz genau auseinander, und das alberne Geschöpf verstand ihn offenbar auch, denn es erhob sich, stand … Nicht sehr hell auf der Platte, trotzdem; extrem niedriger Intelligenzquotient … Immer noch dieses heftige Atmen. Nimmt sogar zu … Komisch. Na endlich – Aufbruch! Aber die Tür ist doch dort – warum kommt der Ballon … Ja, jetzt sieht’s wieder aus wie ein Ballon … Warum kommt der Ballon immer näher? Ach so – will sich verabschieden, der Ballon. Jetzt ganz nah. Soll ich aufstehen? Und so groß. Riesengroß. Monströs … Was will das Monstrum mit meiner Krawatte? Vielleicht verabschiedet man sich neuerdings, indem man … Aber warum … Nein, nicht würgen. Es tut weh. Der Druck soll aufhören sehr weh Schmerz Luft warum eigentlich die Zahnräder in der Uhr sind so laut

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