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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
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schlimmer noch, es war ihm peinlich. Im Pub erzählten sie ihren Freunden nichts von dem Vorfall, und auch später sollte Mather nie mit Edward darüber reden. Vorwürfe wären eine Erleichterung gewesen. Ohne viel Aufhebens darum zu machen, zog Mather sich zurück. Sie sahen sich zwar noch in Gesellschaft, und Mather benahm sich ihm gegenüber auch nicht direkt abweisend, doch wurde ihre Freundschaft nie mehr wie zuvor. Edward litt schrecklich bei dem Gedanken, daß Mather sein Verhalten offenbar abstoßend gefunden hatte, doch fehlte ihm der Mut, ihn darauf anzusprechen. Außerdem sorgte Mather dafür, daß sie nie wieder alleine waren. Anfangs dachte Edward, er habe Mathers Stolz verletzt, als er Zeuge jener Demütigung wurde, die er noch verschlimmert hatte, indem er sich als Rächer und harter Bursche aufspielte, was Mather wie einen verletzlichen Schwächling dastehen ließ. Erst später verstand Edward, daß sich einfach nicht gehörte, was er getan hatte, und er schämte sich noch mehr. Prügeleien vertrugen sich nicht mit Lyrik und Ironie, mit Bebop oder Geschichte. Er hatte gegen die Benimmregeln verstoßen. Er war nicht der, für den er sich gehalten hatte. Was ihm wie ein interessanter Charakterzug vorgekommen war, eine ungeschliffene Eigenart, fand man vulgär. Er war vom Land, ein Provinzheini, der glaubte, ein Schlag mit der bloßen Faust könnte einen Freund beeindruk-ken. Die Erkenntnis tat weh, und er durchlebte eine jener Erfahrungen, die so typisch für die frühe Erwachsenenzeit sind. Er mußte feststellen, daß neue Maßstäbe galten und er es vorzog, nach ihnen beurteilt zu werden. Seither hatte Edward um jede Schlägerei einen Bogen gemacht.
    Und jetzt, in seiner Hochzeitsnacht, traute er sich selber nicht. Er fürchtete, er würde sich wieder aufführen, als wäre er taub und halb blind, als hüllte ihn der winterliche Nebel auf Turville Heath ein und verdeckte die neuerworbene, die kultivierte Seite seiner Persönlichkeit. Mehr als anderthalb Minuten saß er nun schon neben Florence, die Hand unter ihrem Kleid, und streichelte ihren Schenkel. Sein quälendes Verlangen steigerte sich ins Unerträgliche, und er fürchtete seine eigene zügellose Ungeduld, die unbeherrschten Worte oder Taten, die sie auslösen mochte, was den Abend zerstören würde. Er liebte Florence, aber jetzt hätte er sie gern wachgerüttelt, ihr mit einem Klaps die stocksteife Notenständerhaltung ausgetrieben, ihre bildungsbürgerliche Tugendhaftigkeit, damit sie sah, wie einfach es doch eigentlich war - grenzenlose sinnliche Freiheit erwartete sie, dem Greifen nahe und vom Priester abgesegnet - mit meinem Leib verehre ich dich -, eine sudelige, selige, nacktleibige Freiheit, die sich in seiner Erwartungsfreude wie eine riesige Kathedrale gen Himmel erhob, verfallen vielleicht, ohne Dach, das Fächergewölbe nach oben offen, damit sie in inniger Umarmung schwerelos entschweben, einander besitzen und in Fluten atemloser, rückhaltloser Ekstase ertrinken konnten. Es war so einfach! Warum befanden sie sich nicht dort oben, statt hier unten zu sitzen und an all dem zu ersticken, was sie nicht sagen durften oder nicht zu sagen wagten?
    Und was stand ihnen im Weg? Ihr Charakter und ihre Vergangenheit, Unwissen und Furcht, Schüchternheit und Prüderie, innere Verbote, mangelnde Erfahrung oder fehlende Lockerheit, und dann noch der Rattenschwanz religiöser Verbote, ihre englische Herkunft, ihre Klassenzugehörigkeit und die Geschichte selbst. Also nicht gerade wenig. Er nahm die Hand fort, zog Florence an sich, hielt seine Zunge im Zaum und küßte sie so sittsam auf die Lippen, wie er nur konnte. Sanft drückte er sie auf das Bett, bis ihr Kopf auf seinem Arm wie auf einem Kissen ruhte, drehte sich seitwärts, abgestützt auf demselben Arm, und schaute auf sie hinab. Das Bett ächzte klagend, sobald sie sich bewegten, eine Erinnerung an andere Flitterwöchner, die hier genächtigt hatten und bestimmt viel geschickter gewesen waren. Bei dem Gedanken an die würdevoll beeindruckende Warteschlange, die sich bis auf den Flur erstreckte, bis nach unten zum Empfang und noch weiter zurück durch die Zeit, mußte er ein unwillkürliches Grinsen unterdrük-ken. Es war wichtig, nicht an sie zu denken; Lachen wirkte wie erotisches Gift. Außerdem durfte er den Gedanken nicht zulassen, daß Florence womöglich außer sich war vor Angst, sonst würde er sich gar nichts mehr trauen. Willig lag sie in seinen Armen, den Blick auf seine
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