Am Strand
neuen Stück griff. Ihn erregte, ja faszinierte, daß sie ihn vergessen konnte - sie besaß die Gabe völliger Konzentration, während er manchmal den ganzen Tag in einem Dämmerzustand zwischen Langeweile und Erregung verbrachte. Eine Stunde konnte so vergehen, ehe ihr wieder einzufallen schien, daß er noch da war, doch auch wenn sie sich umdrehte und ihn anlächelte, legte sie sich kaum je zu ihm aufs Bett - ausgeprägter Ehrgeiz oder eine der Hausregeln fesselten sie an ihren Notenständer.
Sie gingen auf der Port Meadow spazieren, die
Themse hinauf, um ein Glas Bier im Perch oder der Trout-Bar zu trinken. Wenn sie nicht über ihre Gefühle redeten - Edward wurde diese Gespräche allmählich leid -, unterhielten sie sich darüber, was sie in ihrem Leben erreichen wollten. Edward berichtete ausführlich von der Serie kurzer Biographien, die er fast in Vergessenheit geratenen Persönlichkeiten widmen wollte, die für einen Moment an der Seite großer Männer gestanden oder ihren eigenen flüchtigen Augenblick im Rampenlicht der Geschichte erlebt hatten. Er schilderte ihr Sir Robert Careys wilde Jagd nach Norden, seine Ankunft am Hofe von König James, das Gesicht blutüberströmt nach einem Sturz vom Pferd - und wieso ihm all seine Mühen letztlich nichts eingebracht hatten. Im Anschluß an sein Gespräch mit Violet hatte Edward im übrigen beschlossen, auch einen von Norman Cohns mittelalterlichen Heilsbringern aus der Zeit um 1360 in seine Reihe aufzunehmen, einen Messias und Flagellanten, dessen Ankunft, so wurde es jedenfalls von ihm und seinen Anhängern behauptet, in Jesajas Prophezeiungen vorhergesagt worden war. Jesus galt nur als ein Vorläufer, der neue Erlöser dagegen war König der Letzten Tage, ja Gott selbst. Seine Geißlerschar war ihm auf sklavische Weise ergeben und betete ihn an. Er hieß Konrad Schmid und wurde 1368 von der
Inquisition verurteilt, vermutlich zum Tode auf dem Scheiterhaufen; danach hatte sich seine riesige Anhängerschaft in alle Winde zerstreut. Edward malte sich aus, daß jedes Buch nicht länger als zweihundert Seiten sein sollte und von Penguin Books mit Illustrationen publiziert werden würde; und wenn die Reihe erst komplett war, käme sie in einem Schuber heraus.
Fiorence weihte ihn natürlich ebenso in ihre Pläne für das Ennismore-Quartett ein. Erst in der letzten Woche waren sie in ihrem früheren College gewesen, um ihrem Tutor Beethovens Rasumovsky von Anfang bis Ende vorzuspielen, und er war begeistert gewesen. Er hatte ihnen rundheraus gesagt, daß sie eine große Zukunft erwarte, weshalb sie unter allen Umständen zusammenbleiben und äußerst hart an sich arbeiten sollten. Er sagte, sie sollten ihr Repertoire begrenzen und sich auf Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert konzentrieren, sich Schumann, Brahms und die übrigen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts hingegen für später aufheben. Fiorence gestand Edward, daß sie sich kein anderes Leben wünschte, daß sie den Gedanken nicht ertrüge, in den hinteren Reihen irgendeines Orchesters alt zu werden, falls sie dort denn überhaupt je einen Platz bekäme. Die Arbeit mit dem Quartett sei so intensiv, die Anforderungen an ihre
Konzentration so ungeheuerlich, jeder Spieler quasi ein Solist und die Musik so wunderbar und komplex, daß sie jedesmal, wenn sie ein Stück spielten, etwas Neues daran entdeckten.
Sie erzählte ihm das, obwohl sie wußte, wie wenig ihm klassische Musik bedeutete. Wenn es nach ihm ginge, hörte man sie am besten leise im Hintergrund, ein vage dahinplätscherndes Tröten, Kratzen und Wimmern, das für gewöhnlich Ernst, Reife und auch Respekt vor der Vergangenheit signalisieren sollte, obwohl es für sich genommen völlig uninteressant war. Florence hoffte trotzdem, sein Triumphschrei zu Beginn der Haffner Symphonie sei ein Durchbruch gewesen, und lud ihn deshalb ein, nach London zu einer ihrer Proben zu kommen. Er nahm bereitwillig an - natürlich wollte er sie bei der Arbeit sehen, doch lag ihm noch mehr daran herauszufinden, ob Charles, dieser Cellist, den Florence einige Male zu oft erwähnt hatte, womöglich ein Rivale war. Falls ja, fand Edward es durchaus angebracht, ein wenig Präsenz zu zeigen.
Da in der Wigmore Hall im Sommer kaum Konzerte stattfanden, hatte man dem Quartett nebenan im Gebäude für den Klavierverkauf einen Proberaum zu einem symbolischen Preis überlassen. Florence und Edward trafen vor den übrigen Musikern ein, um die Wigmore Hall in Ruhe zu
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