Am Tor Zur Hoelle
Folgen zeitigt. Dass Menschen nicht einfach ihr Leben fortsetzen können.
Jede Generation leidet, und jede Generation, die einen Krieg führt, muss mit den Folgen leben. Warum müssen sie leiden? Ich frage nicht mehr nach dem Grund; es ist eine sinnlose Frage. Es gibt keine Antwort. Das Leiden ist in der Welt, weil es in der Welt ist. Ohne Leiden gibt es keine Freude, und ich kann nicht wissen, was Freude ist, ohne durch Leid gegangen zu sein. Durch die spirituelle Praxis, durch Meditation und unterstützende Rituale lerne ich, mit dieser Wirklichkeit zu leben, der Wirklichkeit des Leidens; ich lerne, nicht davor wegzulaufen. Und unterdessen wird die Natur des Heilens, der Transformation allmählich klarer.
Unser Leiden ist nicht unser Feind
Die Gesellschaft lehrt uns, dass Leiden ein Feind sei. Wir werden fortwährend ermutigt, das Leiden zurückzuweisen. »Was soll all dieses Leiden? Lasst uns glücklich sein! Spaà haben!« Doch unser Leiden ist nicht unser Feind. Obwohl Schmerz und Leid nicht angenehm sind, sind sie doch unsere Freunde. Denn erst durch eine Beziehung mit meinem Schmerz, mit meinem Leiden, mit meiner Traurigkeit kann ich die andere Seite erreichen, kann ich das Gegenteil erkennen und berühren â mein Vergnügen, meine Freude und mein Glück.
Ich betrachte mein Leiden oft, als wäre es ein körperlicher Schmerz. Wenn ich Schmerz empfinde, drängt mich die Gesellschaft, Medikamente dagegen zu nehmen, ihn nicht zu berühren, ihn nicht zu verstehen, keine Verbindung zu ihm aufzunehmen. Ich wurde konditioniert, alles zu unternehmen, um ihn zu vermeiden. Ich habe lange Zeit meines Lebens nach dieser Konditionierung gelebt. Ich habe eine Menge Drogen genommen, so viele, dass es mir nicht nur unmöglich war, mit dem körperlichen Schmerz und dem psychischen und dem spirituellen Schmerz in Berührung zu kommen, sondern auch mit wahrer Freude, mit Heilung und anderem. Es war schlichtweg unmöglich.
Mein Körper ist von den Narben des Krieges gezeichnet. Jedes Mal, wenn ich diese Narben betrachte, wenn ich sie berühre, berühre ich die Wirklichkeit des Krieges, und wenn ich die Wirklichkeit des Krieges berühre, berühre ich all das Leiden, das dem Krieg innewohnt. Wenn der Schmerz, der zu einer Narbe gehört, auftauchte, habe ich versucht, ihn zu unterdrücken, vor ihm davonzulaufen. So war meine Konditionierung, darauf war ich getrimmt. Als ich in den Spiegel blickte und die Narbe sah und sie berührte, ohne in spiritueller Praxis verwurzelt zu sein, ohne in Achtsamkeit zu leben, sorgte meine Konditionierung dafür, dass ich vor den Gefühlen, die in mir aufstiegen, davonlief. So habe ich Jahr um Jahr reagiert.
Die physischen Wunden sind nicht die bedeutsamsten Wunden, die der Krieg schlägt. Die Wunden der Seele, die spirituellen Wunden, die emotionalen Wunden, die psychischen Wunden â sie alle gehen weit tiefer und sind dem bloÃen Auge häufig verborgen. Körperliche Wunden kann man behandeln, man kann einen Umgang mit ihnen finden. Die Menschen sehen sie und akzeptieren sie. Die Wunden der Seele, die Wunden der Psyche, die Wunden des Herzens â sie sind nicht so klar zu erkennen, und deshalb sind sie weniger leicht zu behandeln. Die Narben, die diese Wunden hinterlassen, gehen oft viel tiefer und sind viel hässlicher anzusehen, zu berühren.
Kann ich mir vorstellen, dass diese Narben und Erfahrungen irgendwann in der Zukunft verblassen und verschwinden und dass ich frei sein werde? Doch ihr Verblassen und Verschwinden ist keine Voraussetzung der Freiheit. Ich bin jetzt schon frei. Weil ich akzeptiere, dass die Narben da sind. Ich will nicht, dass sie anders sind, als sie sind. Lange Zeit meines Lebens habe ich mir gewünscht, die Narben, die zernarbte Haut fortwaschen zu können, um frei zu sein. Je mehr ich mir das wünschte, desto verrückter fühlte ich mich. In Wirklichkeit sind meine Narben ein Teil von mir wie auch meine Hand ein Teil von mir ist. Ich musste lernen, sie zu akzeptieren und mit ihnen in Frieden und Harmonie zu leben.
Ich habe bereits erzählt, dass ich aufgrund meiner Erfahrungen in Vietnam früher oft in Panik geriet, wenn ich meinen Jungen, aber auch andere Babys, weinen hörte. Wenn ich heute ein Baby weinen höre, erlebe ich immer noch Angst, aber ich kann mich herabbeugen, um das Baby in meine Arme zu nehmen. Ich tue das in Verbundenheit mit der Angst. Und wenn
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