Am Ufer der Traeume
Ihre Mutter hatte sie zum Essen eingeladen und dafür nicht mal ein Dankeschön erhalten. »Meiner ist auch drüben. Wir sind schon seit einem Jahr hier, seit der ersten Fäule, und ich quatsche jede Woche mit ihm. Da staunst du, was?«
Molly verstand nicht. »Du sprichst mit ihm? Wie machst du das?«
»Sag ich dir nicht.« Die Frau gab sich betont gleichgültig. »Du musst mir schon was bieten, wenn ich damit rausrücken soll. Hast du einen Penny?«
»Dann wäre ich bestimmt nicht hier.«
»Dachte ich mir.« Die Frau lachte unterdrückt. »Du siehst auch nicht so aus, als hättest du was auf der hohen Kante. Wie wär’s mit deiner Scheibe Schwarzbrot morgen Mittag? Dafür kannst du einmal mit ihm quatschen.«
»Und wie willst du das anstellen?«
»Erfährst du noch früh genug. Willst du?«
»Abgemacht. Und ich kann morgen mit ihm reden?«
»Nicht morgen ... frühestens übermorgen. Sobald ich das Brot habe, sage ich meinem Alten, dass er mit deinem Alten eine Zeit ausmachen soll.« Sie blickte scheinbar gelangweilt auf die Mauer. »Wie heißt dein Alter, Kleine?«
»Nenn mich nicht Kleine. Ich heiße Molly.«
»Und ich Ellen. Also ... wie heißt er?«
»Bryan«, antwortete Molly. »Bryan Halloran.«
»Schöner Name. Taugt der Mann was?«
Molly dachte nicht daran, auf eine solche Frage einzugehen. »Sag mir Bescheid, wenn dein Mann mit Bryan gesprochen hat. Und jetzt geh lieber weiter. Die Hausmutter beobachtet uns schon die ganze Zeit. Die mag mich nicht.«
»Die mag keinen. Nicht mal sich selber.«
Der Nachmittag verlief wie der Vormittag und endete mit dem Läuten der Arbeitshaus-Glocke um achtzehn Uhr. »Räumt erst eure Sachen zusammen!«, sagte die Aufseherin, »dann könnt ihr gehen. Das gilt auch für dich, Molly!«
»Kann man sich hier irgendwo waschen?«, wollte Molly wissen, während sie ihre geflickte Bluse auf den Stapel mit den fertigen Kleidungsstücken legte. Nadel, Faden und Schere legte sie in die Holzkiste am Ende des Tisches.
»Jeden Samstag«, antwortete Edith Morris, »das Wasser ist knapp.«
Ähnlich verhielt es sich mit den Kleidern. Jede Bewohnerin besaß nur ein Kleid und einen Satz Unterwäsche und war gezwungen, sich am Waschtag nackt auszuziehen und die Sachen selbst zu waschen. Bis die Kleider vor den Öfen getrocknet waren, vergingen manchmal mehrere Stunden, während denen sie ungeduldig und in Decken gehüllt davor warteten. Die Bewohnerinnen, die keine Decke besaßen, zogen ihre Kleider manchmal noch feucht an und erkälteten sich bald darauf. Eine Erkältung war lebensgefährlich. Die meisten Frauen waren so ausgehungert und schwach, dass sie kaum Abwehrkräfte besaßen. Vor wenigen Tagen war ein Mädchen an einem Schnupfen gestorben.
Auch beim Abendessen, das wiederum nur aus Buttermilch und einer Scheibe Schwarzbrot bestand, musste Molly an dem langen Tisch im Speisesaal sitzen. Die Hausmutter hatte anscheinend Freude daran, sie leiden zu sehen. Molly hatte große Mühe, sich ihren Hunger nicht anmerken zu lassen und nicht neidvoll auf die Teller der anderen zu blicken. Fanny versuchte mehrmals, ihr ein Stück von ihrem Brot zuzuschieben, scheiterte aber an den strengen Blicken der Hausmutter, die Molly kaum aus den Augen ließ. »Nicht so schlimm«, flüsterte Molly ihrer Schwester zu, »es gibt ja bald Frühstück.«
Doch als Fanny ihr ein Stück Brot gab, das sie in der Tasche ihrer Uniform aus dem Speisesaal geschmuggelt hatte, verschlang sie es dankbar. Ein weiteres Stück hatte Fanny ihrer Mutter auf den Teller geschoben. Rose Campbell war nach dem schweren Arbeitstag vollkommen erschöpft und so schwach auf den Beinen, dass ihre Töchter sie stützen mussten, als sie die Wendeltreppe in den Schlafsaal emporstiegen. Sie sank todmüde auf ihr Strohlager und schlief sofort ein. Molly deckte sie mit zwei Wolldecken zu. Die frische Luft, die durch das undichte Fenster hereinströmte, war Fluch und Segen zugleich, vertrieb den beißenden Gestank, kroch aber auch unter ihre dünnen Kleider.
Besorgt blickten Molly und Fanny auf ihre schlafende Mutter hinab. »Wir müssen uns was einfallen lassen«, sagte Molly. »Lange hält sie nicht durch.«
»Wir könnten sie neben den Ofen legen.«
»Da liegen schon zwanzig andere Frauen, die geben ihren Platz bestimmt nicht freiwillig her. Wenn wir das versuchen, gibt es einen Aufstand und wir landen alle drei im Kerker. Eine Nacht in dem kalten Loch würde sie bestimmt nicht überleben.« Molly faltete die Hände.
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