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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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leise.
    »Fanny? Ich dachte, du schläfst.«
    »Mutter geht es nicht besonders. Ich glaube, sie hat sich wieder eine Erkältung eingefangen. Wenn uns nicht bald was einfällt, ergeht es ihr schlecht.«
    »Ich bete für sie, Fanny. Jeden Morgen und jeden Abend.«
    Molly streckte eine Hand nach ihrer schlafenden Mutter aus und berührte ihren Oberarm. Sie liebte ihre Mutter, hatte sie immer geliebt, auch wenn sie sehr streng zu ihren Töchtern gewesen war und es ihr immer schwergefallen war, ihre Gefühle zu zeigen. Wenn es nach ihr ging, war eine Frau nur auf der Welt, um zu arbeiten und für den Mann zu sorgen, mit dem sie verheiratet war. Gefühle waren ein Luxus, den sich nur wenige leisten konnten.
    Molly war anderer Meinung. Spätestens seit sie Bryan kennengelernt hatte, glaubte sie an die Liebe und die Macht der Gefühle. Sie würde eher als alte Jungfer enden, als einen Mann zu heiraten, für den sie nichts empfand. Sie wollte kein Leben wie ihre Eltern führen, ein Leben ohne gegenseitige Zuneigung, in dem einer dem anderen gleichgültig war. Es musste mehr geben als nur die Liebe zu den eigenen Kindern. Wie schön musste es sein, sein Leben mit einem Mann wie Bryan zu verbringen, einem Mann, den man aufrichtig liebte.
    Beim Morgenappell standen Molly und Fanny mit ihrer Mutter erneut in der zweiten Reihe. Und wieder zögerte der Master, als er Fannys Namen vorlas, und blickte sie lange an. Aus den Augenwinkeln beobachtete Molly, wie ihre Schwester sich alle Mühe gab, ein noch verführerischeres Lächeln als am vergangenen Tag zu zeigen. Sie hatte sorgfältiger als sonst ihre Haare gekämmt und die obersten beiden Knöpfe ihrer Uniform geöffnet, offensichtlich in der Absicht, dem Master mehr nackte Haut zu zeigen. Obwohl sie wie alle Bewohnerinnen extrem abgemagert war, wirkte sie attraktiver als die meisten. Selbst ihr »Hier!« klang nicht so hart wie bei den anderen.
    »Molly Campbell!«, rief der Master.
    »Hier.«
    »Rose Campbell!«
    »Hier.«
    Molly war froh, dass ihre Mutter nichts bemerkt hatte, und blickte Fanny an. »Was soll das?«, fragte sie leise. »Willst du, dass er über dich herfällt?«
    »Keine Angst, ich passe schon auf mich auf.«
    Der Appell ging zu Ende und sie waren bereits auf dem Weg zur Arbeit, als die befehlsgewohnte Stimme des Masters hinter ihnen erklang. »Fanny Campbell! Komm bitte zu mir! Ich habe etwas mit dir zu besprechen.«
    Nicht nur Fanny, auch Molly und ihre Mutter drehten sich erstaunt um.
    »Weitergehen!«, forderte die Hausmutter sie auf. »Ihr seid nicht gemeint.«
    »Tu nichts, was dir später leidtut«, flüsterte Molly rasch ihrer Schwester zu. Sie schob ihre Mutter zur Tür hinaus und gab ihr mit einem Lächeln zu verstehen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. »Lass dich nicht unterkriegen, Mutter!«, sagte sie. »Wir stehen das gemeinsam durch. Ich hab gehört, morgen soll es warme Suppe geben, dann geht es dir sicher besser.«
    Rose erwiderte das Lächeln. »Ich weiß, Molly. Ich weiß.«
    An diesem Morgen gelang Molly so gut wie gar nichts. Beim Einfädeln stach sie sich mehrmals in den Finger und brachte kaum eine Naht ohne Fehler zustande. Ihre Gedanken waren bei Fanny. Sie stellte sich vor, wie der hagere und nicht gerade ansehnliche Mann sie in sein Zimmer führte, sie gierig musterte und lüstern seine Hände an ihrem Körper entlanggleiten ließ. Die Vorstellung, dass diese Hände dabei unter die Uniform ihrer Schwester wanderten und dabei ihre nackte Haut berührten, war ihr beinahe unerträglich.
    »Molly! Was ist los mit dir?«, ermahnte sie Edith Morris.
    »Fanny ... meine Schwester ...«
    »Sie geht dem Master zur Hand, putzt sein Büro oder sein Zimmer. Es ist das gute Recht des Masters, eine Hilfskraft anzufordern.« Ganz wohl schien ihr bei der Antwort nicht zu sein, wahrscheinlich kannte sie ihren Bruder zu gut. »Und jetzt konzentriere dich endlich auf deine Arbeit, sonst muss ich dich der Hausmutter melden, und du kannst dir ja denken, was dir dann blüht.«
    »Ja, Mrs. Morris ... Ma’am.«
    Zur Mittagspause kehrte Fanny zurück. Ihre Haare waren durcheinander und ihre Wangen unnatürlich gerötet. Molly kam es sogar so vor, als würde sie ein wenig zittern. »Wo warst du so lange?«, fragte sie, noch bevor ihre Mutter aus der Waschküche zurückkam. »Fanny, du hast doch nicht mit ihm ...«
    »Ich musste ihm helfen. Seine Anzüge bürsten und seine Schuhe putzen. Stell dir vor, er besitzt mehrere Anzüge, alle schwarz, und

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