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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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über die Straße getrieben wurde. Kaum hatten sie den beißenden Geruch der Toten und Kranken, denen sie in Irland begegnet waren, mit frischer Meeresluft vertrieben, waren sie erneut bestialischem Gestank ausgesetzt. In der offenen Tür eines Hauses standen in Lumpen gekleidete Kinder, ein alter Mann lehnte an einer Trümmerwand und starrte ins Leere. Viele Leute waren krank, besonders Ältere und kleine Kinder, und lagen hilflos und erschöpft auf ihren Decken oder auf dem nackten Boden. Einige hatten Schwarzes Fieber, und eine alte Frau verriet ihnen, dass man erst gestern einen Mann begraben hatte, der an der Cholera gestorben war. »Hier geht der Tod um«, sagte sie.
    Das Haus, in dem sie sich schließlich verkrochen, lag am Ende der Straße. Ein zweistöckiges Wohnhaus, das zur Hälfte eingestürzt war und den Blick auf einen düsteren Hinterhof freigab. Außer ihnen hielt sich nur noch ein junges Ehepaar darin auf. Die hatten sich einen Wohnraum ausgesucht und machten einen gesunden Eindruck. »Sie können im Keller wohnen«, sagte der Mann, ein ehemaliger Schmied aus der Gegend von Cork, der bei seinem englischen Herrn in Ungnade gefallen war und mit seiner Frau seitdem auf der Straße lebte. »Hier wagt sich die Polizei nicht her, hier sind wir einigermaßen sicher. Und sobald ich an einen Kredit komme, heißt es:
Farewell, olde England!
«
    Molly beneidete den Schmied um seine Zuversicht, lebte eher von der Hoffnung. Ihr scheinbar unerschütterlicher Glaube an Bryan war längst ins Wanken geraten, auch wenn sie immer noch zögerte, sich diese bittere Erkenntnis einzugestehen. Wütend vertrieb sie einige Ratten aus dem Kellerraum. Sie huschten durch ein großes Loch in der Ziegelwand davon. Ihre Schwester griff sich einen Lumpen, der sich in den Trümmern verfangen hatte, und kehrte den gröbsten Schmutz zusammen. Sie fürchteten sich nicht vor Ungeziefer. Auch in ihrer Hütte hatte es Spinnen und Käfer gegeben und auf den Straßen in Irland gab es so viel Schmutz, dass sie kaum noch etwas erschrecken konnte. Ihre einzige Angst galt tödlichen Krankheiten wie dem Schwarzen Fieber oder der Cholera, die in solchem Schmutz gediehen.
    Zum Glück gab es in der Nähe einen Brunnen, aus dem sie Wasser schöpfen konnten. Sie aßen von den Vorräten, die Fanny in ihrem Leinenbeutel verstaut hatte, zerschlugen einige Möbel in dem verfallenen Haus und entzündeten mit dem Holz ein Feuer, das auch die letzte Ratte aus dem Keller vertrieb. Keiner sagte etwas. Nachdem sie gegessen hatten, rollten sie sich in ihre Decken und schlossen bedrückt die Augen. Sie hielten keine Wache, waren viel zu müde, um wach zu bleiben, und schliefen erschöpft ein. Sie würden am nächsten Morgen überlegen, was sie unternehmen konnten, auch wenn sie im Augenblick noch keine Ahnung hatten, wie sie sich entscheiden sollten.
    Früh am Morgen, das Feuer war längst heruntergebrannt und draußen zeigte sich das erste Tageslicht, wurde Molly durch eine vertraute Stimme geweckt. »Molly!«, schallte es von der Straße herein. »Molly, bist du hier?«
    »Bryan?«, flüsterte Molly. Und dann lauter: »Bryan? Bryan?«
    Sie schlug die Decken zurück und sprang auf. Zur Überraschung von Fanny und ihrer Mutter, die bei ihren Rufen ebenfalls aus dem Schlaf geschreckt waren, kletterte sie durch das Loch ins Freie und rannte auf die Straße hinaus.
    Bryan stand vor dem Nachbarhaus und grinste breit, als er sie kommen sah. Sie fielen einander in die Arme, klammerten sich aneinander wie zwei Ertrinkende und waren viel zu aufgeregt, um etwas zu sagen. Ihr Atem ging so rasch, dass es nur für einige hektische Küsse reichte, es war genug, den anderen in den Armen zu halten und seine Wärme und Nähe zu spüren.
    Doch als sie sich voneinander lösten, funkelte Molly ihn wütend an. »Da bist du ja endlich, Blue Eyes! Ich hab dich überall gesucht! Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Ich hatte schon Angst, du wärst ohne uns nach Amerika gefahren!«
    »Immer mit der Ruhe, Little Red! Ich hatte noch einiges zu erledigen. Oder meinst du, die kriegt man von heute auf morgen?« Er hielt vier Tickets hoch.
    Sie blickte ihn aus großen Augen an. »Sag bloß, das sind ...«
    »... die Tickets nach New York. Unser Schiff geht morgen früh um zehn Uhr. Leider nur im Zwischendeck, was Besseres war in der Eile nicht drin.«
    »Bryan ... verdammt! Wo hast du die her?«
    »Das fragst du mich besser nicht. Habt ihr heißen Tee?«
    »Und ob«, sagte sie fröhlich.

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