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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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seit sie in New York von Bord gestiegen waren, und sie und Fanny lebten noch immer in dem vierstöckigen Mietshaus, das ihnen ein Agent nach ihrer Ankunft empfohlen hatte. »Agent«, so hatte sich der freundliche, aber hinterhältige junge Mann genannt, der sich als »irischer Landsmann« vorgestellt und sie auf direktem Weg zu dem wartenden Mister Silverstein geführt hatte, einem arroganten Unternehmer in Mantel und Zylinder, der ihnen das kleine Zimmer unter dem Dach und einen Arbeitsplatz in seiner Näherei angeboten hatte. Die Miete für das Zimmer war unverschämt hoch, der Lohn für die Arbeit unverschämt niedrig, aber es blieb ihnen keine andere Möglichkeit, wenn ihnen ein Leben in der Gosse erspart bleiben sollte. Das hatte ihnen der Agent unmissverständlich klargemacht.
    Die Schwestern hatten eingewilligt, auch weil ihnen Mister Silverstein einen geringen Vorschuss gewährt hatte und sie das Geld dringend brauchten, um über den ersten Monat zu kommen. Das Zimmer war möbliert. Es gab einen Holztisch mit zwei Stühlen, einen Schrank, eine Anrichte und ein Bett, das sie sich teilen mussten, außerdem einen Herd, der an kalten Tagen auch den Ofen ersetzte. Durch das kleine Fenster blickte man auf den Hudson River. Eine »Absteige« hatte Fanny die Unterkunft genannt und im selben Atemzug geschworen, sich sobald wie möglich einen reichen Mann zu angeln und diese »beschissene Armut« endlich hinter sich zu lassen. »Du wirst sehen«, sagte sie, nachdem sie sich eingelebt hatten, »in spätestens zwei Jahren spaziere ich in kostbaren Kleidern über den Union Square.« Um diesen Platz, abseits der armen Einwanderer im Süden, hatten sich die reichen Familien angesiedelt.
    »Ich bleibe auf keinen Fall hier«, erwiderte Molly. »Sobald ich Bryan wiedergefunden habe, gehen wir nach Westen. Dort liegt das wahre Paradies. Ein Land, so weit und scheinbar endlos wie das Meer, hab ich mir sagen lassen. Berge, Wälder und weite Ebenen, Flüsse und Seen, fruchtbares Ackerland und grüne Hügel wie in der alten Heimat. Wir gründen eine Farm oder züchten Rinder. In Amerika ist alles möglich, du darfst nur nicht in diesem elenden New York bleiben. New York ist das Fegefeuer, durch das du gehen musst, wenn du wirkliche Freiheit kennenlernen willst, und ich habe die Absicht, es so bald wie möglich hinter mir zu lassen. Wenn Bryan kommt ...«
    »Bryan, immer nur Bryan«, schimpfte Fanny, als Molly wieder einmal davon anfing, dass er schon irgendwann auftauchen und sie holen würde. »Seit fünf Jahren muss ich mir das nun anhören. Wann siehst du endlich ein, dass du Bryan verloren hast? Sie haben ihn nach England zurückgeschickt und er ist an seiner Krankheit gestorben oder er treibt sich irgendwo in der alten Heimat herum. Oder meinst du vielleicht, er tut sich eine solche Reise noch mal an?«
    »Bryan kommt wieder, das spüre ich.«
    »Das hast du schon mal gesagt.«
    »Und? Ist er vielleicht nicht gekommen?«
    Doch bisher war er nicht erschienen, und wenn sie ehrlich war, zweifelte sie schon manchmal selbst daran. Fünf Jahre waren eine lange Zeit und einiges sprach dafür, dass er tatsächlich an seiner Krankheit gestorben war. Allein die anstrengende Überfahrt, noch einmal zwei oder drei Monate auf dem dunklen Zwischendeck, konnte ihn umgebracht haben. Und wenn er noch am Leben war, nahm er wahrscheinlich an, sie wäre längst verheiratet. Woher sollte er auch wissen, dass sie jeden Annäherungsversuch eines Mannes barsch zurückwies und immer noch sehnsüchtig nach ihm Ausschau hielt? Nein, redete sie sich ein, er war stark und hatte sich bestimmt nicht unterkriegen lassen. Sobald er sich von seiner Krankheit erholt hatte, würde er sich ein Ticket besorgen und ein zweites Mal nach New York fahren. Bryan und sie waren füreinander bestimmt und nicht einmal ein Ozean konnte sie trennen.
    Molly hatte sich in den fünf Jahren zu ihrem Vorteil verändert. Sie hatte ein paar Pfund zugenommen und sah nicht mehr so abgemagert und ausgezehrt wie nach ihrer Ankunft aus, ihre rötlichen Haare, die sie im Nacken zu einem modischen Knoten gebunden hatte, glänzten wieder und in ihre Augen war jenes kampflustige Glitzern zurückgekehrt, das Bryan so gefallen hatte. Sie ließ sich nicht unterkriegen, weder von den unmenschlichen Bedingungen, die in dem Mietshaus herrschten, noch von diesem Mister Silverstein, der ihre Miete während der letzten fünf Jahre schon etliche Male erhöht hatte und jeden Monat vom Lohn einbehielt,

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