Am Ufer der Traeume
heiß an, dass man es sogar durch die dicken Decken spürte. Selbst ein Arzt hätte ihr jetzt nicht mehr helfen können.
In diesen schweren Stunden brachte es Molly nicht fertig, ihre Mutter zu verlassen und sich mit Bryan auf dem Oberdeck zu treffen. Sie wollte jede Minute ausnutzen, die ihr noch mit der Mutter blieb. »Meine Zeit ist gekommen«, sagte Rose Campbell so leise, dass sich Molly und Fanny dicht über sie beugen mussten. »Der Herrgott ruft mich zu sich. Ich ...« Ihre Stimme versagte kurz. »... ich möchte noch einmal ... den Himmel sehen! Nur noch ... einmal.«
Molly sah ein, dass es nichts mehr bringen würde, ihre Mutter zu belügen, und wechselte einen Blick mit ihrer Schwester. »Meinst du wirklich, Mutter?«
»Bringt ... mich an ... Deck! Bitte ... Molly ... Fanny ...«
Unter den neugierigen Blicken der anderen Frauen erfüllten sie ihren letzten Wunsch. Mit vereinten Kräften trugen und schoben sie ihre in Decken gehüllte Mutter über den steilen Niedergang zum Oberdeck hinauf. Oben angekommen blieben sie neben einem der Masten stehen. Sie stützten sie unter beiden Ellbogen, mussten ihre ganze Kraft aufwenden, um sie auf den Beinen zu halten, obwohl sie kaum noch etwas wog. Selbst der Erste Maat, der gerade lautstark einen Matrosen zurechtgewiesen hatte, schwieg und trat respektvoll zur Seite, als sie an ihm vorbeigingen und mit ihr an die Reling traten.
Rose Campbell blickte über das weite Meer nach Westen. »Dort drüben ... liegt ... Amerika?« Im Rauschen des Meeres und dem Knarren der Segel war ihre schwache Stimme kaum noch zu hören. »So weit ... weg ... von Irland?«
»Nur dort sind wir frei, Mutter«, erwiderte Molly.
»Ich weiß. Ich ... weiß doch. Ihr werdet ... es dort ... besser haben.«
»Ja, Mutter. Ganz bestimmt.«
Rose Campbell atmete die frische Luft und blickte zuerst Fanny und dann Molly an. »Ich ... bin ... sehr stolz ... auf euch! Ich liebe ... euch beide! Seid mir ... nicht böse, dass ... dass ich so ... früh gehe, aber ... der Herrgott ... will es so.« Sie lächelte schwach. »Ihr ... ihr werdet mich ... doch nicht ... vergessen?«
»Niemals, Mutter! Niemals!«
Sie hielt ihr Gesicht in den Wind und wirkte nicht wie jemand, der im Begriff war zu sterben, eher wie eine Frau, die ihre Aufgabe erfüllt hatte. »Ich ... danke euch ... für alles!« Sie schloss die Augen. »Wie schön ... es hier ist ...«
Molly und Fanny spürten, wie der Körper ihrer Mutter in ihren Armen erschlaffte und sanken gemeinsam mit ihr zu Boden. Umgeben von anderen Passagieren, die neugierig näher kamen, blickten sie auf die leblose Frau hinab. Es war kein Leben mehr in ihrem schmächtigen Körper. »Mutter!«, flüsterten beide fast gleichzeitig. Molly strich ihr einige Haare aus dem Gesicht.
Sie bestatteten Rose Campbell wie alle anderen Passagiere, die sich während der langen Reise eine tödliche Krankheit einfangen hatten. In eine Decke gehüllt übergaben sie ihren Körper der See. »Gelobet sei der Name des Herrn!«, sagte der Captain, als die Tote vom Wasser verschluckt wurde, und zitierte aus der geöffneten Bibel: »Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Mögest du in Frieden ruhen, Rose Campbell!«
Nach der Bestattungszeremonie starrte Molly lange auf das graue Wasser und sprach ein stilles Gebet, in dem sie sich für alles bedankte, was sie von ihrer Mutter gelernt und bekommen hatte, und in dem sie den Herrgott bat, ihr die verdiente Gnade zu gewähren. Ihr Tod war ein schwerer Verlust für sie und ihre Schwester, hatte sich jedoch während der letzten Monate angekündigt und traf sie nicht unvorbereitet. Ihre Mutter hatte sich nicht mehr stark genug für die neuen Aufgaben in Amerika gefühlt und war vor dem unendlichen Leid, das die Menschen ihrer Heimat erfasst hatte, in die Knie gegangen.
»Dort, wo sie jetzt ist, hat sie es besser«, sagte Molly.
»Und wir müssen an die Zukunft denken«, erwiderte Fanny.
Bryan war nicht bei der Bestattung ihrer Mutter gewesen, erschien auch nicht auf dem Oberdeck, als Molly einige Tage nach ihrem Tod wieder nach oben stieg. Nachdem sie sich suchend umgeblickt hatte, trat ein anderer junger Mann auf sie zu und sprach sie mit ernster Miene an. »Du bist Molly, nicht wahr?« Sein Dialekt wies ihn als Bewohner der Provinz Munster aus.
»Wer will das wissen?«
»Ich bin Richard McCory und schlafe in dem Bett über Bryan. Mein Beileid.« Er fühlte sich anscheinend unwohl in seiner Rolle.
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