Am Ufer (German Edition)
kurz vorm Welken, man hält sie für erfahren, ihr Loch bewahrt das mit vielen Männern in vielen Stunden Gelernte, ihre Möse hält man für einen Speicher ungeahnter Laster und geht davon aus, dass man auf irgendeine Weise etwas von diesem gesammelten Kapital wird einstreichen können. Wie auch immer, es ist nie leicht, unter demselben Dach zu wohnen, aber wir haben acht Jahre zusammengelebt.
Er fährt sich mit dem Handrücken über die Augen. Er lässt die Hand dort einen Augenblick wie einen Schirm, verbirgt seinen Blick, drückt einen Kummer aus, den man nachdenklich nennen könnte, einen schmerzlichen Gedanken, während ich auf die Uhr schiele und denke, es ist schon spät. Joaquín wird den Kleinen hingelegt haben, und vielleicht liegt er sogar selbst schon im Bett oder sieht sich eine Sendung vom National Geographic an, so etwas gefällt ihm. Wie soll ich sie nicht vermissen, klagt er mit so etwas wie einem Wimmern. Er weint nicht, will aber, dass ich die Emotion in der Stimme, in der Geste wahrnehme. Er will mir damit sagen: Ich könnte weinen, oder: Ich habe in Gedanken an sie so oft geweint, oder: Ich kann schon nicht mehr weinen, meine Tränendrüsen sind ausgetrocknet, aber ich widme dir diese Aufführungdes Weinens, genau wie die Schauspieler glaubwürdig das wiedergeben, was im vor langer Zeit geschriebenen Libretto steht, und sie tun das mit echtem Gefühl, als führten sie das erste Mal vor Publikum die Trauer des Verlassenwerdens oder die Angst angesichts des Todes vor. Er führt für mich ein Weinen vor, das lange her ist. Die Fähigkeit, die Darstellung im Theater glaubwürdig wirken zu lassen, nennt man, in die Figur einzutauchen. Aber wie war das wirklich, was er mir so erzählt? Ich versuche zu rekonstruieren, wie die Frau gewesen ist, die sich zehn oder zwölf Jahre lang in Rotlichtklubs an der Landstraße prostituiert hat, nein, sie war nie eine Luxushure, wer weiß, vielleicht kam sie zu spät dazu, sie meinte, ihr gefielen die anspruchsvollen Gäste der halb privaten Clubs nicht. Die Manager sind Gesindel, sagte sie zu mir, die sind schlimmer als die Pechvögel, Soldaten, Fahrer, Arbeiter, die für einen Fick mit mir zahlen. Nutte in einem mit Emigranten durchsetzten Klub, sie kommen her, um den geringen Wochenlohn zu verbrennen, Gelegenheitsarbeiter, besoffene Arbeiter, einfach nur Besoffene, das erzählt er mir, er beschreibt mir die Straßen, das Ambiente, ich kenne Madrid nicht, war ein einziges Mal da, damals mit Joaquín zu dem Musical
Die Schöne und das Biest.
Das, was dieser Mann mir gerade erzählt, kann nicht wahr sein. Ich versuche mir vorzustellen, wie diese Frau war, auch von der physischen Erscheinung her. Wie war sie?, frage ich. Und er: Was meinst du damit? Was willst du wissen? Ich sage: War sie groß, klein, dunkel, blond, hatte sie ein rundes oder ein längliches Gesicht? Ich überleg mir, ob sie mir möglicherweise ähnlich sieht, damals so alt war wie ich jetzt, und deshalb die Erinnerungen in dem Mann hochgestiegen sind und ihn zu Vertraulichkeiten animiert haben: Auch wenn mein Kleid nicht so eng sitzt wie jenes, das er näht, wenn er den Körper der Frau, die ich mir aus dem, was er erzählt, zurechtreime, einkleiden will. So viel Sanftheit, so viel Ruhe. Das bring ich nicht zusammen, das ist für mich nicht glaubhaft. Der Handel mit Körpern, Drogen, Gonorrhoe, Syphilis, Aids, das ist doch das Schäbigste überhaupt. Und er spricht von einer Art Blume, die sich des Morgens öffnete. Die an seiner Seite einunddreißig, zweiunddreißig und achtunddreißigwird. Dabei jede Nacht in einem Zimmerchen außerhalb von Madrid die Beine breit macht. Das ist nicht glaubhaft. An solchen Orten lernt man zu schreien, zu streiten, zu beleidigen, anzugreifen und sich zu wehren. Man erkennt die allgemeine Instabilität, lernt mit dem Augenblick zu geizen, den man mit einem Schluck, mit einem Schuss konsumiert. Im Übrigen kommt eine Frau nicht ganz zufällig dort hin, sie muss zuvor eine gewisse Gesellschaft frequentiert, eine bestimmte Art von Leben geführt haben. So tief zu fallen. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe nicht, was das für eine Frau ist, von der er spricht, kein Schrei, kein einziges Mal laut geworden in all der Zeit, die sie zusammen gelebt haben; und dieses Kind, dieser Junge, der, wenn man den Mann sprechen hört, immer still gewesen zu sein scheint, ein Junge, der gemeinsam mit ihnen älter wird, sieben, acht, elf, seine Hausaufgaben am Wohnzimmertisch macht,
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