Am Ufer (German Edition)

habe sie gesehen, als ich mit dem Bus von dem Madrider Flughafen kam, ihr müsstet nach Kolumbien emigrieren, so wie es früher einmal war, und doch sind wir es, die in dieses dürre Land kommen, denn sobald du von diesem Stückchen Grünland am Meer wegkommst, ist alles trocken und steinig. Aber was sagst du da, Liliana, das hier ähnelt doch von allen Landschaften der Erde am meisten dem Paradies; aus der halben Welt kommen doch die Rentner her und wollen sich hier niederlassen, in einem dieser Häuschen mit Trennwänden aus Rigips und ohne Fundament, die man besser nur anschaut und nicht berührt. Aber jetzt halt besser den Mund, Liliana, entschuldige, lass mich an meine Sachen denken, daran, wie der Alte immer noch meinen Tageslauf bestimmt, so wie er es mein ganzes Leben lang getan hat, und mehr noch jetzt, wo du nicht mehr da bist, wir beide allein, und ich ihm zu Diensten: Ihm das Essen machen, es auftragen, das Geschirr spülen, ihn waschen, ihn ins Bett legen, seine Kleider (dieser Gestank, der nicht aus dem Haus weicht) in die Waschmaschine stecken. Er hat für sie gearbeitet, als er im Gefängnis war. Wie die Sklaven, das hat er erzählt, Steine klopfen, schleppen, sie hatten keine Peitschen wie die Nazis in den Filmen, aber wenn sie wütend wurden, zogen sie den Gürtel aus und schlugen dich, traten auf dichein, wenn sie merkten, dass du einen Augenblick innehieltest, um dir den Schweiß abzuwischen. Ja, Vater, aber deine Zeit bei der Zwangsarbeit oder den Disziplinarstrafen, wie sie es nannten, hat ein Jahr oder anderthalb gedauert, aber bei mir geht das nun schon über ein halbes Jahrhundert so, und das hast du erreicht, ohne dass du mit rutschender Hose den Riemen schwingen musstest, allein mit deiner Stimme, deinem Blick, und ich wie ein furchtsames Schäfchen: eine lange Strafe. Früher blieb Liliana bei dir, Vater, Liliana, von der ich glaubte, dass sie mich behüten würde, die so sehr mein war wie ich dein. Mich werden sie immer haben, Herr Esteban, Liliana, der Sancocho der Pipián die Wachspalme, ihr murmelnder Wortschwall, meistens blieb sie bei ihm bis zum Abendessen, der Geruch des Kaffees der Geruch der Kakaobohnen der Geruch der laubreichen Bäume die frischen Blätter nass vom tropischen Regen nichts als Grün und Feuchte die weiche Luft der Höhen die Farbexplosion des Flamboyant, haben sie noch nie so einen Flammenbaum gesehen? Er ist nichts als Blüten, ein scharlachrotes Lodern inmitten des Urwaldgrüns; etwas weiter weg das blaue Feuer des Jakaranda, und sie gab ihm zu essen, badete ihn, und das war die Zeit, die ich für eine Partie in der Bar nützte. Wenn ich ihn allein zu Hause lasse, in den Sessel versunken, habe ich Angst, dass jemand mich fragt, wie geht’s deinem Vater, die Kolumbianerin ist bei ihm, nicht? Es stört mich, lügen zu müssen, zu sagen, ja, ja, die Kolumbianerin passt auf, du weißt ja, man kann ihn keine Minute allein lassen, auf die Gefahr hin, dass derjenige, der gefragt hat, sie eine Minute später auf der Straße trifft, oder jemand erfahren hat, dass sie nicht mehr zu uns kommt und ich ihn allein zu Hause lasse. Da könnte das Sozialamt intervenieren, mich wegen Vernachlässigung oder schlechter Behandlung anzeigen, da kann man sogar ins Gefängnis kommen, die Leute sind schnell dabei, wenn es darum geht, bei anderen Verantwortung einzufordern, sind sehr unbefangen bei der Zuweisung von Pflichten und sehr wenig bereit, die eigenen zu erfüllen, nicht einmal kleine Gefälligkeiten wollen sieübernehmen. Das wäre ja ein Witz, das ganze Leben lang unter seiner Knute, und dann belangt zu werden, weil man ihn im letzten Augenblick mal allein lässt. Haft, Knast, das Tüpfelchen auf dem i. Obwohl ich fürchte, sie werden zu spät kommen. Einfach lügen, sagen, sie ist da und mein Vater gut versorgt, bewacht. Die Kolumbianerin, so nennen meine Kartenkumpel Liliana. Könnten Sie mir helfen, die Laken zu falten, das Kopfkissen in den Bezug zu stecken (leichte Berührung der Hände)? Könnten sie mir einen Vorschuss von ein paar Euro auf die nächste Woche geben? Es reicht nicht mal mehr fürs Brot, ein schrecklicher Monat, fürchterlich, die Schulbücher für Kinder, Kleidung für den Älteren, die wachsen so schnell aus ihren Sachen heraus, oder sie zerreißen sie beim Fußball auf dem Zementboden im Schulhof, und die Schuhe, man kommt einfach nicht nach, und für Wilson ist es die schlechteste Zeit bei der Arbeit, die Bauten stillgelegt, die Bars und die