Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
Vom Netzwerk:
drei monetäre Generationen). Er hat das Geld angehäuft mit den Provi sionen, die er dafür bekam, dass er dank mafiöser Kontakte den Emigranten Arbeitsverträge samt Aufenthaltserlaubnis verschaffte. Er verschickte die Männer hier aus der Gegend und setzte sie in der Ferne als Straßenfeger, Kellner, Maurer, Straßenarbeiter ein, er allein weiß wie und mit welchen Handlangern. Er steckte sie in Baracken im alpinen Eis, wo sie sich den Arsch abfroren, wenn sie ihm nicht noch die Kohle oder das Öl für den Ofen zahlten, und zusätzlich zu dem, was sie ihm im Voraus für die Fahrt und die Lohnsteuerkarte gezahlt hatten, strich er noch zwanzig bis dreißig Prozent des Lohns als Schutz- und Wohngeld ein. Worüber ich mich wirklich wundere, ist, dass die Überlebenden jener Expeditionen ihn noch heute grüßen, auf ein Glas einladen und meinen, dass er sich für sie eingesetzt hat. Ein gerissener Kerl, ein Fuchs, sagen sie noch immer, vierzig Jahre danach. Stell dir vor, es ging immerhin um das anspruchsvolle Deutschland und um die Schweiz, ein Land, das sich so pingelig mit Emigranten anstellte. Er brachte es fertig, dich unter einer Decke über drei Grenzen zu schleusen, gab dir dann und wann einen Schluck Weinbrand zum Aufwärmen, solange du im Kofferraum bleiben musstest oder den Kühlraum mit den für den Export bestimmten galicischen Seehechten teiltest; und wenn du dann ankamst, hattest du alle Papiere und fingst am nächsten Tag an zu arbeiten. Die Geschädigten reden mit andachtsvollem Respekt über ihn, sie haben, so scheint’s, immer noch nicht begriffen, dass sie Sklaven in den Händen eines Menschenhändlers waren; allerdings verändert sich die Geschichte, wenn der dankbare Mensch erst mal drei oder vier Glas über den Durst getrunken hat. Dannverdreht sie sich in ihr Gegenteil, und das ist der Augenblick, wenn das Foto des Kannibalen sichtbar wird: unser lokaler Hannibal Lecter. Das Raubtier. Hier in Olba hat er später mehr oder weniger das Gleiche gemacht, Varianten des Sklavenhandels: Er karrt Männer in Kleintransportern zu Arbeitsstellen, die er ihnen beschafft, und behält dafür zwanzig oder fünfundzwanzig Prozent ihres Lohns ein. Das ist nur ein Beispiel. Ein proteischer Typ, der auf allen Klaviaturen klimpert: Landwirtschaft, Bauwesen, Import-Export, Finanzen. Und er setzt alle Berufszweige ein: Kolonnen für die Oran genernte, Trupps von Maurern, Elektrikern, Installateuren, Bri gaden von Fahrern. Mal ganz abgesehen vom
white-collar
-Segment: Zöllner und Hafenbeamte, Kommissare, Rechtsanwälte, Notare, Gemeinderäte, Bürgermeister. Aus allen macht er Personal für sein Dienstleistungsunternehmen, das selbstredend nicht gesetzlich gemeldet ist. Wie auch immer, ein Held im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, er denkt sich immer etwas aus, auf dass die anderen arbeiten. Wo immer er hinkommt, er schüttet Arbeit aus. Das Kassieren, das übernimmt er selbst, über die Entlohnung kann man später sprechen. Wenn du ihn triffst, wenn du stehen bleibst und mit ihm redest, hat er sofort auch etwas für dich, hör zu, dich wollte ich sowieso sprechen, kannst du mir nicht einen Gefallen tun? Ein prima Kandidat für den Posten des Ministers für Soziales. Vor Jahren kam er in die Bredouille, weil er anscheinend ohne Auftrag Gespensterkolonnen von Orangenpflückern in Haine schickte, die ihm nicht gehörten. In ein Paar Stunden machten die Pflücker unerlaubt ganze Reihen von Bäumen leer, woraufhin unser Lecter das geklaute Obst an Grossisten verkaufte, die es nicht so genau mit der Herkunft der Ware nahmen; oder er lagerte sie selbst ein und vertrieb sie in halb Europa, eingeschlossen die ehemaligen Ostblockländer, verpackt mit Etiketten, die jemand für ihn fälschte oder stahl, oder die ihm die Grossisten selbst für einen kleinen Betrag überließen unter der Bedingung, das niemand etwas von der Zusammenarbeit erfuhr. Ich weiß nicht mehr genau, wie das damalswar und ausging. Aber er stand kurz davor, in Fontcalent hinter Gitter zu kommen, oder man hat ihn sogar eingebuchtet, wie einige behaupten, etwas in der Richtung. Er war jedenfalls eine Zeit lang verschwunden, und es kursierten unterschiedliche Gerüchte über seine Abwesenheit. In unserer Umgebung wimmelt es von Unternehmern mit längeren Aufenthalten im Limbus, in angeblichen Kurzentren: Knast, Entzugs klinik für Alkohol- oder Kokainsüchtige. Verschiedene Arten des Rückzugs, das stressige Geschäftsleben bringt so etwas mit sich. Ich

Weitere Kostenlose Bücher