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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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ihn. Für ihn waren es Ausflüge auf dem Rücken der Gans, mit der er dann den Flug über die Welt antrat, ganz wie Nils Holgersson aus der Geschichte, die wir als Kinder lasen. Aber wir wollen beim Thema bleiben: Er fügte dem Bildungsroman seines Lebens neue Kapitel an. Ab und zu kam er nach Olba, und bei jedem Besuch hatte ich den Eindruck, dass er mir gegenüber gewachsen war, ich sah ihn gewissermaßenaus der Untersicht, eine Technik, die Rialp uns in seinen Büchern als charakteristisch für Orson Welles erklärte, so hatte dieser seinen Citizen Kane ins Riesenhafte transponiert, ein Trick, um eine Figur zu vergrößern: Francisco überzeugte mich mit seiner Höhe, erdrückte mich, ein Wechselspiel von Schuss und Gegenschuss in den Dialogen, tatsächlich aber von Aufsicht (er) und Untersicht (ich). Ganz wie du meinst, Francisco, du kommst von außerhalb, ich bin das ganze Jahr hier, wir machen das, was du möchtest, was du gerne sehen oder kennenlernen willst, ich kenn das alles auswendig, für mich ist es nicht weiter aufregend, auch nicht der Sternenhimmel und der Duft der Orangenblüten, die Sachen, die du angeblich so sehr vermisst, wenn du weg bist. Für mich ist es das tägliche Brot. Ich folgte ihm, und zugleich ertrug ich ihn nicht, weil ich das Bild von mir nicht ertrug, das er mir zurückspiegelte. Er schaffte es, dass ich wie ein Lamm dem Hirten folgte, wie die Entenküken, die hinter jedwedem bewegten Gegenstand hinterherwatscheln, der für sie zur beschützenden Mutter wird. Folgsam kokste ich neben ihm, trank am Tresen, dieweil ich ihm zuhörte, stieg meinen Vorsätzen zum Trotz zu den Zimmern im Nuttenclub hoch, er voran, ich hinterher, vor uns die beiden Nutten. Er hatte sich nicht wie ich auf einem jener Wege, die, wie im Sumpf, unter Unkraut verschwinden, verloren. Er war weiterhin dabei, uns zu verlassen. Ich hätte zeigen müssen, dass ich eine eigene Persönlichkeit, ein eigenes Urteil hatte, und sei es, dass ich Nuancen in den Vordergrund stellte, wie es Justino bei Diskussionen zu tun pflegt. Also, ich rede gerade vom Anfang der Achtzigerjahre. Ich hatte mich schon seit Langem im Sägemehl verkrochen, acht oder zehn Jahre, in denen ich nichts erwartet hatte. Leonor war nicht mehr mein, war es nie gewesen. Die Gans-Frau, die so flog, wie es ihr passte, und aus dem Zeitvertreib Kalkül machte, hatte den abgeschüttelt, der auf ihr ritt. Heute ist Kokain nicht mehr gesellschaftsfähig, damit hantieren nur junge Kerle, die von der Oberschule ab- und auf den Bau gegangen sind und jetzt keine Arbeit haben: Geh zumAbort, alles bereit. Mir wird natürlich nichts angeboten, mein Alter, das Image eines seriösen Mannes, obgleich die Tatsache, dass ich Junggeselle und allein bin, mich mit einer gewissen Aura von Boheme umgibt: Diese jungen Kerle wissen nichts von meiner Vergangenheit, das interessiert sie auch nicht, in kleinen Städtchen ist das Zusammenleben gedeihlich, weil man periodisch Schichten des Vergessens über das Vergangene schüttet; täte man das nicht, wäre das Leben unerträglich; wie jeder Alte meiner Generation bin ich für sie ein starres Bild, keine Entwicklung, verfestigtes Sediment. Wir Alten erreichen ein Stadium der Zeitlosigkeit, wir sind ein unveränderlicher Zustand, nicht ein sich wandelndes Wesen, man geht davon aus, dass es keine Zwischenetappen zwischen dem Altern und dem Sterben gibt, auch wenn von dem einen bis zum anderen Jahrzehnte vergehen. Du wirst alt und dann stirbst du; sehen sie zufällig ein Bild von dir in ihrem Alter – vier davon hängen im Büro an der Wand, auf dem einen reicht meine Mähne bis zu den Schultern –, dann staunen sie darüber, dass du ihnen so ähnlich siehst. Cool, du hattest ja lange Haare, und der Nicki ist wieder total in. Auf dem Foto trage ich tatsächlich einen Nicki, auf den lang, hell und glatt das Haar fällt; und daneben ist eins, auf dem ich ein weites, weißes Leinenhemd trage, offen, und auf der Brust die Kette mit den Haifischzähnchen zu beiden Seiten des Anhängers, ein Kreis mit einem großen A in der Mitte – schau an, ein Hippie; und auf diesem, da bist du am jüngsten, achtzehn? zwanzig?, da hast du das Haar und den Anzug wie die Beatles, mit geschlossenem Kragen. Diese Jacken sind wieder modern. Damals nannten wir das Maokragen, nach dem Mann, der in China die Revolution gemacht hat und eine Uniform mit Stehkragen trug. Du weißt nicht, wer das ist? Hast du ihn denn noch nie im Fernsehen gesehen? Krass, du sahst

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