Am Ufer (German Edition)
Ich lese seine Glossen in den Zeitungsbeilagen, auch darin folge ich Franciscos Spuren, lauere ihm auf, überwache ihn. Die Stockfisch-Brandada von Leo, das Wildbret á la Leo, die Bécasse, oh, Leos Bécasse. In einer Zeitungskritik habe ich gelesen, dass ihre Feinde sie irgendwann La Bécasse nannten wegen ihres schmalen Gesichts und der spitzen Nase, diese wuchs mit den Jahren und in dem Maße, wie ihre Magersucht oder die ersten Zeichen der Krankheit sie vom Fleisch fallen ließen. Von Francisco wusste ich, dass sogar Kunden aus dem Baskenland kamen, um die Bécasse zu kosten: Jeden Mittag versammelte sie ein Dutzend Leute aus Politik und Finanz an den Tischen des Cristal de Maldón; Ansehen, Avantgarde, riechen, verkosten, Modisches kauen, zwischen denZähnen das Knirschen der Macht wie das der Brotkruste zu spüren, die mit den Innereien des Vogels beschmiert ist. Wenige Jahre später wurden ihrem Restaurant zwei Michelin-Sterne verliehen, es war nicht nötig, es mir zu erzählen, sie kamen nicht mehr in die Gegend, keiner von beiden fand nach Olba, sie kam kein einziges Mal zurück, er nur zu seltenen Anlässen, zur Beerdigung seines Vaters, Familienangelegenheiten, die Aufteilung des Erbes zwischen den Geschwistern. Das mit den zwei Sternen kam in den Fernsehnachrichten, und dann habe ich es auch noch in der Bar Dunasol beim Morgenkaffee gelesen. Gleich am nächsten Tag stand es in den Zeitungen, die ich jeden Morgen am Tresen durchblättere. Und ich begegnete Leonor erneut in den Fernsehnachrichten, als ich mir zu Hause am Esstisch meine Nachtischsorange schälte. Es war eine Wiederholung der Ein-Uhr-Nachrichten, als Zugabe ein kleines Interview mit der ersten Frau, die in Spanien mit zwei Sternen geehrt wurde, ein enormer Verdienst in einer so machistischen Welt wie der Haute cuisine (wie viele weibliche Doppelsterne in Frankreich? Weltweit? Ich weiß nicht mehr, ob gesagt wurde, dass es das in Frankreich noch einmal gäbe oder überhaupt nicht). Danach habe ich sie oft gesehen, die Köche nahmen ja auch immer mehr Platz im Fernsehen ein, Leonor auf verschiedenen Wellen des Geschmacks reitend: Küche der Aromen, Küche der Sinne, Molekularküche. Ich sah sie in der Glotze, mit ihrer Haube und dem weißen Kittel, wie sie hinter einer Platte mit Fisch posierte, ein Bündel Spargel oder ein Strauß Gemüse in den Händen, ein Zackenbarsch auf Porzellan, immer lächelnd, diese Zähne, die im Licht der Scheinwerfer wie eine Zahnpastawerbung blitzten (pinseln sie dir die Zähne mit irgend so einem Clisident, bevor sie dich aufnehmen, du Miststück?), und dann musste ich den Fernseher ausschalten, bevor das von ihr empfohlene Gericht fertig war, oder bevor sie auf die Fragen des Moderators antwortete, weil das Bild auf dem Schirm sofort mit den in meinem Kopf gespeicherten Bildern verschmolz, die plötzlich hervorsprangen, sich ein ums andere Mal überlagerten, dasWirkliche verdeckten und mich in eine Welt wirrer Erinnerungen zogen, gelebter wie erfundener, doch alle unerträglich. Damals sprach Francisco bei seinen gezählten Besuchen in Olba schon nicht mehr als Journalist oder Schriftsteller: Er sprach von Macht und Einfluss, die er in der Zeitschrift, bei den Winzerbetrieben hatte, wie unverzichtbar sein Rat war, wenn es darum ging, die Moste zu mischen – bei der
coupage
, sagte er –, die Fässer zu wählen, die Etiketten abzusegnen und – ganz wichtig – die Philosphie des Weins zu bestimmen, die sich auf den Preis niederschlug. Je mehr Philosophie, desto höher der Preis. Dazu die anderen Geschäfte, Leonors Restaurant, seine Hotelprojekte, die ihn mit Unternehmern und Politikern zusammenbrachten. Die lange Nase der Bécasse erschien auf dem Fernsehschirm, und ich sah Leonor nackt in seinen, Franciscos, Armen. Ich sehe sie. Leonor, die mit ihren Beinen seinen Rücken einfängt: Leonors Gesicht, das über der männlichen Schulter hervorschaut, ihre Pupille starr auf die meine gerichtet, der Mund halb geöffnet und seine Hinterbacken in Bewegung, sie öffnen und schließen sich, angespornt von den Frauenfüßen. Leonor auf dem Titel einer Modezeitschrift, sie präsentiert eine Platte, auf der ein tief purpurfarbener Hummer ruht, fast dunkelviolett, und wie ich genauer hinsehe, ist es eine blutige Puppe in Fötalstellung. Ich richte mich im Bett auf. Schreie. Sie sollen mich in Ruhe lassen. Die Erinnerungen. Den jetzigen Francisco, der so schlicht und ungezwungen wirkt, wenn er abends mit den Dörflern
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