Am Ufer (German Edition)
ich, und er lacht, mir ist es nicht schlecht ergangen, ich erzähl es dir mal in Ruhe, also habe ich bei ihm immer das Gefühl, dass er, wenn er von denen spricht, die er hasst (er ist ein Spezialist darin, öffentlich über skrupellose Unternehmerund Banker ohne Moral zu wettern, und er zieht über die hirnrissige Immobilienspekulation der letzten Jahre her, allerdings nicht, wenn er mit Pedrós, Justino oder Bernal zusammen ist), in Wirklichkeit gegen sich selbst angeht, er scheißt auf seine eigene Biografie, er ist der kosmopolitische Mr. Hyde, kontrapunktisch zu dem dörflichen Kartenspieler Jekyll. Aber das alles dürfte ein etwas zu schnelles, ja sogar ungeschicktes Porträt sein. Man müsste auf seine Vergangenheit als junger, sozial engagierter Katholik zurückgehen, JEC, JOC, HOAC und wie die Vereinigungen sonst noch hießen. Er grübelte hin und her, ob er ins Priesterseminar gehen sollte, das Verlangen nach Gerechtigkeit wühlte in ihm, er strebte ein universelles, egalitäres Glück an, wer nicht in jenen Zeiten: Arbeiterpriester in Francos Spanien oder ein Guerillero-Priester wie Camilo Torres irgendwo in Lateinamerika sein, aber sein Schwanz war aus einem Stoff, der leicht auf Anziehungskräfte reagierte, ein psychophysiologisches Handicap, das viele Priester jedoch in ein wunderbares Hirteninstrument umwandeln, dank des unbezahlbaren Netzes authentisch erotischer Kontakte, das der Beichtstuhl schon immer geknüpft hat; ich glaube allerdings eher, dass dieser Weg ihm durch die Erkenntnis verleidet wurde, dass die Macht innerhalb der Kirche sich ihm als anspruchsvolle Frucht zeigte, deren Hege und Pflege allzu verquere Regeln und rhetorische Figuren, ein strenges Reglement erforderte, zugleich aber extrem subtile Bewegungen, Andeutungen, halbe Worte, ein leichtes Hochziehen der Augenbraue, ein unmerkliches Zusammenpressen der Lippen. Er neigte zu direkteren als im Klerus üblichen Aktionen, die ihrerseits ein kompliziertes Labyrinth, entworfen nach barocken Regeln, darstellten, das Erbe von Trient, die geforderte Langsamkeit des Vorrückens; falsche Übungen in Unterwerfung unter die Hierarchie, heimliche Intrigen und irrationale Hingabe und Gehorsam, zu viel Gewisper und keine Schreie, und gerade die Schreie waren es, die ihm damals die Politik bot, als er sie Ende der Siebziger an den Hörnern packte: Sie hatte, das muss gesagt werden, eine andere Offenheit,Taktik und Strategie schienen durchsichtiger (eine Umkehrung all dessen, was sein Vater getrieben hatte), und das eigene Bild hatte eine öffentliche Dimension, auch wenn seine ersten politischen Gehversuche noch in die Zeit der Illegalität zurückreichten – aber sobald dann die
transición
, der Übergang zur Demokratie, begann – da gab es Anerkennung zwischen den Eingeweihten und nicht diese Geheimnistuerei in den Fluren der Gemeindehäuser, Sakristeien und erzbischöflichen Palästen: Du leitetest die Zellen, die halb klandestinen Versammmlungen und du gewannst Ansehen, auch wenn das unter deinem Decknamen geschah, während eine Diktatur ohne Diktator zusammenbrach; und nach der Einführung der Demokratie, war das dann die Höhe, des Decknamens entkleidet, erschien der wahre Name, und mit dieser Wahrheit, der Politik als höchstem und beinahe einzigem Wert, der weit über dem stand, den irgendeine andere gesellschaftliche Aktivität haben könnte, klettertest du auf ein Podium und schriest von dort aus, und deine Schreie wurden verstärkt dank eines prächtigen Systems von Megafonen (das ging auf Rechnung von Schweden, Deutschen und Franzosen, sozialdemokratische Genossen, die sich solidarisch mit den Kämpfern gegen den Franquismus zeigten), und dein Brüllen wurde von Reibtrommeln und indianischen Flöten begleitet und Trommeln in voller Lautstärke, die Lieder von Victor Jara und anderen, weg mit den Zäunen, gib dem Indio deine Hand, das hieß, mit offenem Visier der Welt begegnen und nicht ein Leben lang in muffigen Sakristeien und schattigen Gängen herumschleichen, in feuchten Arbeitszimmern voller Kruzifixe und Bilder von gemarterten oder verwundeten Heiligen, bleich wie gekochter Mangold, nachgedunkelt über Jahrhunderte im Rauch der Kerzen, die aus demselben gelblichen Stoff wie die Gesichter jener gemacht zu sein schienen, die in diesen Räumen lebten, Nachbarorte des gefürchteten Kontinents der letzten Dinge; die Scheide, an der das Lebende sich ins Tote begibt, ein Weg, der zwischen den Schatten des Heute und dem Abgrund der
Weitere Kostenlose Bücher