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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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Vollkraft des Mannes wiederzugeben, den ich nicht gekannt habe, weil mein anderer Bruder, meine Schwester und ich erst nach der Verkrüppelung gekommen sind, Kinder einer angenommenen Knechtschaft, Geschöpfe ohne eigene Form, Kreaturen für den Hausgebrauch, die nach nichts Höherem streben. Dem ganzen Land war ein solches Streben ausgetrieben worden. Nichts konnte wachsen und dieses Grau durchbrechen. Es ist an mir, seinen aufgeschobenen Wunsch zu erfüllen und ihn den Genossen zurückzugeben. In Wirklichkeit setze ich die Lektion meines Onkels um: jeder Jagdbeute ihr eigenes Schicksal zuzugestehen, als dankbare Restitution an die Natur, die – ebenso wie die große geschichtliche Tragödie oder das Wunder der Transsubstantiation – in jedem kleinsten ihrer Bestandteile ihre Essenz offenbart; sie wird geboren, lebt und stirbt in jeder ihrer Erscheinungen. Jeden Haken mit dem richtigen Köder versehen. Ich gebe ihm zurück, was ich ihm als Sohn schulde, ich tausche ein Leben gegen zwei Leben ein, ich genüge meiner anonymen Rolle in der Geschichtskette, begleite ihn, auf dass ihm beim letzten Akt nichts fehle, eine entscheidende Rolle, wenn auch nur in Vertretung. Völker mit Kultur haben zu Ehren ihrer Toten Festmahle gegeben, haben an ihren Gräbern gefeiert. Vikar bei deiner Zeremonie, bin ich die Fliege, die nach und nach vertrocknet, gefangen in den klebrigen Spinnweben fremder Stimmen, ein Echo ohne körperlichen Ursprung: Ja, Don Esteban, natürlich duften die Orangen, die hier wachsen, das bestreite ich ja nicht, aber feiner, zarter und eleganter escheint mir der Duft von den Kaffeesträuchern, Sie sagen das so, weil Sie nicht den Duft der Kaffeeblüte kennen, oder? Das Aroma ist besser, schöner auch die Blüte, diese duftenden weißen Röschen und dann in diesem warmenKlima, das alles röstet, erfüllen sie die Luft mit einem so dichten Duft, dass man glaubt, ihn berühren zu können. Dort ist alles Duft nach Kaffee, Zimt und Kakaobohnen. Tropische Gerüche, wie man sagt. Sie haben nie eine Kaffeeblüte gesehen, haben nie einen Kakaobaum wachsen sehen, nie eine Kakaofrucht, nicht wahr? Die kommen nicht bis hierher. Es kommen nicht mal die Kakaobohnen in ihrer Schale. Ihr seht im Supermarkt dieses Pulver, von dem keiner wirklich weiß, wie es hergestellt wird. Die Indios benutzten Kakaofrüchte undbohnen als Geld, weil die für sie einen enormen Wert hatten. Sie sagten, Schokolade sei ein Göttertrunk. – Übrigens hat das Land dort einen weiteren großen Vorteil, und das heißt, man kann ihm, dem Land, ins Gesicht sehen, es auf einen Blick erfassen: wirkliches Land, so weit das Auge reicht, Pflanzungen um Pflanzungen, die sich an den Hängen der Hügel entlangwinden, und irgendwo in der Ferne oder an einem Hang vor den beschneiten Vulkanen steht eine einzige Hütte oder ein größeres Landhaus, nicht wie hier, wo du überall Baustellen siehst oder Müllkippen, hier liegt nirgends Ruhe in der Landschaft, selbst auf den engsten Wegen bewegt man sich mit erhöhter Vorsicht wegen all der Autos und Laster, und das ist immer noch so, immer noch die Hölle, obwohl Wilson mir erzählt, dass nichts mehr läuft, alle Bauten stillgelegt sind. Dort ist es anders: Dort ist alles schön, ich schwör’s. Weder die Erde noch das Klima vertreibt uns. Es sind die Umstände, die einen forttreiben. Die Menschen haben das Böse ins Paradies gebracht, und ich glaube, das kann ihnen Gott, der doch angeblich alles kann, nicht verzeihen. Oder er will es nicht verzeihen. Das Spinnennetz aus Stimmen, die dich klebrig umgarnen, das Insekt im Netz eingefangen, das plötzlich reißt.
    Soll ich den Kanal wechseln, Vater? Willst du noch einen Western sehen? Oder lieber die Selbstmordattentäter, die gleich in die Luft fliegen? Der Nachmittag vergeht im Nu, jetzt im Winter wird es so schnell dunkel, und das ist deprimierend, sobald wir mit dem Essenfertig sind, lasse ich die Rollos runter, damit wir die Nacht draußen nicht sehen und noch ein Weile unter der unbarmherzigen Sonne in der Wüste von Texas oder Kansas mit diesen Viehdieben herummarodieren können. So viel Wüste, so viel Trockenheit. Ich muss aufstehen und mir ein Bier holen, denn der Staub dieser Ritte dringt mir in die Kehle, obwohl der Heizkörper das kleine Wohnzimmer nicht warm bekommt und auch nicht der Feuchtigkeit Herr wird. Hier in Olba ist es weniger die Kälte als die hohe Luftfeuchtigkeit, die einem die Winterabende vergällt. Ein Film noch, ich lass dich hier

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