.Am Vorabend der Ewigkeit
Antwort, und Yattmur nahm an, daß er die Morchel um Rat fragte.
»Sobald der Stelzer einen Platz gefunden hat, der für seinen Samen geeignet ist, wird er mit den Beinen im Grund versinken. Sie werden dann zu Wurzeln. Das ist der Augenblick, in dem wir hinabsteigen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
In seiner Stimme war ein harter Unterton, den sie nicht begriff.
»Warum sollte ich mich nicht sorgen? Wir wissen nicht, wohin der Stelzer uns bringt – und wir sind ihm hilflos ausgeliefert.«
»Du bist dumm, deshalb machst du dir Sorgen«, sagte er.
»Warten wir, bis wir an Land sind. Vielleicht wirst du dann mir gegenüber wieder freundlicher sein.«
Der Stelzer watete an Land. Von seinen schlanken Beinen tropfte das Wasser. Ganz in der Nähe kamen noch vier oder fünf andere aus dem Meer. Die Landschaft war traurig und eintönig. Hier herrschte nicht das rege Leben und Treiben jener tropischen Regionen, in denen Gren und Yattmur geboren wurden. Von jener Welt blieb nur ein Schatten. Die Sonne stand dicht über dem Horizont wie ein blutiges Auge. Überall herrschte Zwielicht.
Auch im Ozean schien alles Leben erstorben zu sein. Kein mörderisches Seegras gefährdete den Strand, und in den felsigen Buchten sprang kein Fisch aus dem Wasser. Wie Blei lag das Meer unter dem grauen Himmel, denn die Stelzer – von ihrem Instinkt geleitet – hatten für ihre Wanderung eine Zeit ohne Stürme gewählt.
An Land herrschte die gleiche unheimliche Ruhe. Zwar wuchs auch hier der Wald, aber Schatten und Kälte hielten ihn klein. Es war ein Wald, der nur halb lebte. Als sie hoch über die verkrüppelten Bäume dahinschwebten, konnten die Menschen bemerken, daß viele der Blätter braune Flecke hatten.
»Wann sind wir endlich da?« flüsterte Yattmur.
Gren gab keine Antwort, und sie erwartete auch keine. Sein Gesicht war kalt und starr; er sah sie nicht einmal an. Sie ballte die Fäuste und schluckte ihren Ärger hinunter. Sie wußte, daß er keine Schuld hatte.
Vorsichtig bewegte sich der Stelzer durch den Wald. Die Blüten mit den fünf Menschen schwebten hoch über den Wipfeln der Bäume. Die Pflanzen wanderten stets so, daß die Sonne hinter ihnen war. Unbeirrt marschierten sie jener Dunkelheit entgegen, die das Ende der Welt des Lichtes bedeutete.
Die Wanderung schien kein Ende nehmen zu wollen. Gren sprach kein Wort.
Die Landschaft änderte sich, aber sie änderte sich nicht zu ihrem Vorteil.
Sie durchquerten ein flaches, breites Tal. Die letzten Sonnenstrahlen trafen die Blüte, aber unten auf dem Boden war es bereits dunkel. Immer noch gab es den Wald, aber er war niedrig, kahl und wie tot. Zweige und Äste bildeten verschlungene Ornamente, als wehrten sich die Bäume gegen die ihnen aufgezwungenen Lebensbedingungen.
Vor ihnen aber lag die Dunkelheit, wie Schiefer in Schichten gelagert. Aus der Schwärze hob sich ein kleiner Berg ab. Er stand da und schien das Gewicht der Nacht auf seinem zerklüfteten Rücken zu tragen. Die Sonne traf seine Gipfelregionen und färbte sie golden. Es schien die letzte Farbe der Welt zu sein, denn was dahinter lag, war verschwommen. Der Stelzer begann, den ersten, sanften Hang des Berges emporzusteigen.
Nicht lange, und die Blüten wurden wieder vom Sonnenschein ganz umspült. Andere Stelzer waren in der Nähe. Sie machten keine Pause, sondern wanderten weiter, ihrem unbekannten Ziel entgegen.
Der Wald hatte auch das Tal der Nacht bezwungen. Hier, in den letzten Strahlen einer in Dunkelheit versinkenden Welt, entfaltete er sich noch einmal zu einem Rest einstiger Größe.
»Vielleicht wird er hier bleiben«, sagte Yattmur hoffnungsvoll. »Was meinst du, Gren?«
»Wie soll ich das wissen?« Seine Stimme klang mürrisch.
»Er muß bleiben! Er kann nicht ewig laufen!«
»Ich weiß es nicht, ich sagte doch schon, daß ich es nicht weiß!«
»Und deine Morchel? Weiß sie es auch nicht?«
»Nein. Und nun laß mich in Ruhe.«
Die Fischer schwiegen. Mit Angst in ihren stumpfen Augen betrachteten sie die schattige Alptraumlandschaft.
Weiter und immer weiter wanderte der Stelzer, ohne eine Spur von Ermüdung zu zeigen. Seine langen Beine suchten sich ihren Weg durch den Wald, bis es den Menschen klarwurde, daß er erst dann anhalten würde, wenn der letzte Sonnenstrahl für immer erloschen war. Sie erreichten den Gipfel. Der Stelzer ging weiter. Hinter dem Berg lag nichts als Finsternis.
»Ich werde jetzt hinausspringen«, rief Gren plötzlich und stand auf.
Yattmur
Weitere Kostenlose Bücher