.Am Vorabend der Ewigkeit
nieder.
»Gren, was ist?«
»Ich ... ich ...«
Mehr konnte er nicht sagen. Dafür meldete sich in seinem Gehirn die Morchel.
»Gren, ich war zu sanft mit dir. In Zukunft wirst du meine Befehle ausführen. Du brauchst nicht zu denken, das kannst du mir überlassen; aber du wirst gehorchen. Wir stehen vor der Lösung eines Rätsels, und du willst baden gehen. Willst du immer auf dieser Insel bleiben? So, und nun bleibt ruhig liegen und beobachtet die Stelzer, oder ich sorge dafür, daß die Krämpfe deine Glieder krümmen.«
Gren rollte sich auf den Bauch, um besser sehen zu können.
Yattmur hob seinen Kopf an. Mit Abscheu betrachtete sie das krustenharte Gewächs, das bis zu seiner Schulter hinabreichte.
»Wieder die Morchel, Gren? Komm, steh auf! Wir müssen zur Höhle. Es wird Nebel geben.« Aber Gren schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Geh allein. Ich muß bleiben, um die Stelzer zu studieren. Ich komme später nach.«
Seine Glieder waren frei von Schmerzen, aber sie schienen schwach geworden zu sein. Er sah Yattmur nach, die in Richtung der nahen Höhle verschwand.
Hohes Gras machte ihn fast unsichtbar. Er konnte die Stelzer trotzdem gut beobachten. Eine dritte Blüte war emporgeschossen, langsamer als die anderen, weil die Sonne nicht mehr so stark schien. Am fernen Horizont verschwamm das Festland im Dunst. Ein Schmetterling flatterte vorüber – ein grüner Pflanzenschmetterling. Auf dem Meer trieb ein Eisberg; er zerbrach in zwei Teile, und erst nach einer Weile gelangte das Krachen an Grens Ohren. Gren war allein mit der Morchel, die ihn einst mit Mut und Hoffnung erfüllt hatte, ihm aber jetzt nur noch Furcht und Abscheu einflößte. Gäbe es doch ein Mittel, sich ihrer zu entledigen!
Eine vierte Blüte stieg in die Höhe. Der Wind wiegte sie hin und her, bis sie zufällig gegen ihren nächsten Nachbarn stieß. Sofort schossen Schlingfäden hervor; die beiden Pflanzen fesselten sich aneinander.
»Aufpassen!« befahl die Morchel. »Die Blüten gehören zusammen. Sechs von ihnen bilden eine Pflanze. Jene sechs, deren Wurzeln auf dem Boden miteinander verwoben sind.« Nach einer winzigen Pause fuhr die Morchel fort: »Ich weiß jetzt auch, woher sie kommen. Die kleinen Kriechhände – aus ihnen entstehen die Stelzer. Sie kommen aus dem Meer und fassen auf dem Land Fuß. Langsam begreife ich die Zusammenhänge. Warte, gleich werden die restlichen zwei Blüten auch in die Höhe schießen.«
Gren fühlte erste Erregung. Yattmur kam zurück und brachte ihm etwas zu essen. Dann lag sie neben ihm, still und abwartend.
Inzwischen hatte der Wind alle vier Blüten zusammengeweht. Die fünfte gesellte sich zu ihnen, dann die sechste. Sie mußte einige Zeit auf einen Windstoß warten, bis auch sie sich mit ihren Schwestern vereinigen konnte.
Wie ein hochbeiniges Monstrum stand der Stelzer über den Köpfen der beiden Menschen. Weiter geschah noch nichts.
»Was soll das bedeuten?« fragte Yattmur ängstlich.
»Warte noch.«
»Schicke das Mädchen fort«, befahl die Morchel. »Sie kann dir später wieder Nahrung bringen. Du bleibst hier. Wir dürfen den entscheidenden Augenblick nicht versäumen. Es kann nicht mehr lange dauern.«
Der Nebel lichtete sich allmählich. Erste Sonnenstrahlen trafen den Stelzer. Einer der Stengel bewegte sich – dann löste er sich plötzlich mit einem schmatzenden Geräusch von seiner Wurzel. Er wurde zu einem Bein.
Die anderen Stengel folgten in Abständen. Und dann wanderte das ganze Gebilde – ein Stelzer mit sechs Blüten – auf das nahe Meer zu.
»Folge ihm«, befahl Morchel.
Gren richtete sich auf und ging vorsichtig hinter der wandernden Pflanze her. Yattmur hielt sich dicht an seiner Seite. Der Stelzer nahm ihren Pfad zum Strand, und als die Fischer ihn kommen sahen, flohen sie kreischend in die Büsche und verbargen sich. Der Stelzer nahm keine Notiz von ihnen. Behutsam umging er Hindernisse und erreichte den losen Sandstrand.
Auch hier pausierte er nicht. Er schritt weiter, bis nur noch die sechs Blüten aus dem Wasser ragten. Dann nahm er Richtung auf das ferne Festland.
»Hast du jetzt begriffen?« fragte die Morchel, und ihre Stimme schien so laut zu dröhnen, daß Gren sich unwillkürlich den Kopf hielt. »Das ist unser Fluchtweg. Die Stelzer wachsen hier, weil hier Platz genug ist und sie günstige Bedingungen antrafen. Um sich zu vermehren, gehen sie aufs Festland zurück. Und wenn sie zum Festland gelangen, können wir das auch. Sie nehmen
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