.Am Vorabend der Ewigkeit
Laren schrie. Yattmur gab ihm die Brust.
Als der Schnee dichter fiel, stand sie auf und trat in die Höhle.
Draußen donnerte es von der Tagseite her. Gren lag in seiner Ecke und stierte vor sich hin.
Die Morchel, dachte Yattmur bitter. Sie ist an allem schuld. Wir sind ihre Opfer, Laren genauso wie ich. Ich muß einen Weg finden, Gren von ihr zu befreien.
»Ich gehe jetzt zur Höhle der Fischer, Gren.«
Sie erwartete keine Reaktion, aber er richtete sich auf und sagte:
»Du kannst Laren nicht mit in den Schnee hinausnehmen. Gib ihn mir, ich will auf ihn aufpassen.«
Sie kam auf ihn zu.
Das Licht in der Höhle war schlecht. Das Gewächs um Grens Kopf und Nacken sah dunkler aus als sonst. Es schien sich in den letzten Schlafperioden vergrößert zu haben. Über der Stirn stand es weit vor.
Yattmur begegnete Grens Blick und wich zurück. Sie nahm Laren wieder mit.
»Gib ihn mir«, sagte Gren tonlos. »Er muß noch soviel lernen, und er ist jung.«
Blitzschnell erhob er sich und trat auf sie zu. Er streckte seine Hände nach dem Kind aus.
Yattmur hatte ihr Messer gezogen. Wie ein wildes Tier zeigte sie Gren die Zähne.
»Bleib, wo du bist!«
Laren begann zu schreien.
»Gib das Kind her!«
»Niemals! Du bist nicht mehr Gren, sondern die Morchel. Setz dich wieder! Komm nicht näher!«
Aber er hörte nicht. Er bewegte sich ungeschickt, als gehorche sein Nervensystem zwei rivalisierenden Befehlszentren. Yattmur hob die Hand mit dem Messer, aber er schien die Drohung nicht einmal zu bemerken.
Im letzten Augenblick drehte Yattmur sich um, ließ das Messer fallen und floh aus der Höhle. Fest hielt sie Laren in ihren Armen.
Blitze fuhren aus dem Himmel auf die Gipfel herab. Es hatte aufgehört zu schneien, dafür regnete es in Strömen.
Sie sah nicht mehr zurück, sondern war froh, als sie die Höhle der Fischer erreichte. Erst im Eingang kam ihr der Gedanke, daß die Gefahr, der sie nun entgegenging, vielleicht größer war als jene, der sie eben entronnen war.
Jetzt war es zu spät.
Fischer und Bergohren waren aufgesprungen, als sie in die Höhle kam.
23
Gren war in seiner Höhle inzwischen zu Boden gesunken. Er kniete auf harten und spitzen Steinen. Seine Augen waren weit aufgerissen, aber sie nahmen kaum noch etwas von ihrer Umwelt wahr.
Die Bilder, die sie sahen, glichen wirbelnden Nebelfeldern, unklar und verschwommen. Gren sah eine Wand winzig kleiner Zellen, wie bei einer Honigwabe. Sie war überall. Er schien tausend Hände zu haben, aber er vermochte nicht, die Wand einzureißen. Nur ein Spalt war geblieben. Durch ihn erkannte er in weiter Ferne kleine Gestalten. Eine davon war Yattmur. Sie kniete und gestikulierte mit den Armen. Andere Gestalten identifizierte er als die dickbäuchigen Fischer. Einmal glaubte er sogar Lily-Yo zu erkennen, die es gar nicht mehr gab. Auch sich selbst sah er, und es war, als hätte er seinen eigenen Körper verlassen und betrachte sich aus geringer Entfernung.
Der Nebel wogte auf und nieder – und verschwand.
Er fiel zurück und lehnte sich wieder gegen die Höhlenwand. Die wabenartige Struktur, die ihn zu umgeben schien, begann überzufließen. Wie aus tausend Mündern tropfte es auf ihn herab, aber es waren nur die tausend Münder der Morchel, die zu ihm sprachen. Schon wollte er entsetzt aufschreien, als er erkannte, daß die Morchel ihn nicht quälen wollte. Im Gegenteil, in ihrer lautlosen Stimme war Bedauern. Gren beruhigte sich und versuchte, auf das zu hören, was die Morchel ihm zu sagen hatte.
»Im Dschungel des Niemandslandes, in dem meine Rasse lebte, gab es keine solchen Geschöpfe wie dich. Wir lebten auf Kosten der primitiven Pflanzen, die dort wuchsen. Sie besaßen kein Gehirn; wir waren ihre Gehirne. Bei dir ist alles ganz anders. Vielleicht habe ich auch zu lange in deinem außergewöhnlichen Erinnerungsspeicher herumgestöbert. Ich habe dort viele erregende Dinge gefunden und vielleicht sogar ein wenig meine ursprüngliche Aufgabe vergessen. Ich bin genauso dein Gefangener, wie du der meine bist. Doch nun wird es Zeit, daß ich mich wieder meiner Aufgabe entsinne. Indem du lebst, hast du mich ernährt. Ich fühle die Krisis nahen. Ich bin reif.«
»Ich verstehe nicht ...«, sagte Gren.
»Vor mir liegt eine Entscheidung. Bald bin ich reif und muß mich teilen. Das ist ein Vorgang, auf den ich keinen Einfluß ausübe. Es wird hier geschehen, in diesem unfruchtbaren Gebirge, in Kälte und Eis. Ich kann entweder nur hoffen, daß mein
Weitere Kostenlose Bücher