Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)
sagt Olga.
»Wie lange?«, will Hildegard wissen.
Olga zuckt mit der Schulter und tippt etwas ein. Dengler sieht, dass sie ein weiteres Programm gestartet hat. Auf dem Bildschirm erscheinen unverständliche Zeichen.
Nach anderthalb Stunden ist der Ordner geöffnet. Es befinden sich einige PDF -Dokumente und ein Film darin. Olga klickt ihn an.
Der Film zeigt, schräg von der Seite gefilmt, ein Fabrikationsgebäude, die Vorderseite eines großen grauen Industriekomplexes. Die ganze Front durchzieht eine breite Ladefläche, auf der eine Gitterbox oder ein ähnlich großes Gebilde aus Metall steht. Dengler kneift die Augen zusammen, aber kann den Gegenstand nicht genau erkennen; die Kamera hat aus zu großer Entfernung gefilmt. Ein großer schwarzer Fleck: offenbar der Eingang des Gebäudes. Sonst ist nichts zu sehen. Für einen Moment tritt ein Mann in einem blauen Arbeitsmantel nach draußen, sieht sich kurz um und verschwindet wieder im Inneren.
»Halt den Film an. Ich will mir den Mann genauer ansehen.«
Olga lässt den Film zurücklaufen und hält ihn an. Das Bild ist zu unscharf, Dengler kann keine Gesichtszüge erkennen.
Hildegard starrt auf den Bildschirm: »Nie gesehen.«
Olga zögert einen Moment, dann lässt sie den Film weiterlaufen.
Einige Sekunden lang sehen die drei nichts als die leere Ladefläche. Dann fährt ein Lkw rückwärts an die Rampe. Die Kamera zoomt näher heran. Die Aufbauten sind vergittert, durch die Schlitze sieht Dengler eine Kuh, die an einem der Gitter saugt. Die Kamera zoomt näher auf den Kopf des Tieres. Große braune Augen sehen sie jetzt direkt an. Es ist ein Kälbchen. Es saugt an den eisernen Querstreben des Gitters, als wären es die Zitzen der Mutter.
Jetzt fährt die Kamera zurück in die Totale. Der Fahrer steigt aus dem Lkw, und aus dem Eingang tritt erneut der Mann in dem dunkelblauen Arbeitskittel. Die beiden Männer reden kurz miteinander, schließlich übergibt der Fahrer einige Papier, wahrscheinlich Lieferscheine. Er dreht sich um und öffnet die Rückseite des Lkws. Er klettert in das Wageninnere und zieht zwei Lochbleche hervor, die jetzt eine Brücke zwischen dem Lkw und der Rampe bilden. Der Mann verschwindet erneut, und dann erscheint das erste Kalb. Unsicher steckt es den Kopf aus dem Lkw, sieht nach rechts und links. Ein zweites Kalb erscheint. Es blickt ebenso unsicher in die fremde Umgebung. Dengler sieht, wie der Fahrer dem ersten Tier auf das Hinterteil schlägt. Es springt entsetzt nach vorne und stolpert. Auch das zweite Kalb trottet über die Brücke, es wird von den nachfolgenden aus dem Lkw gedrängt.
Etwas stimmt an dem Bild nicht. Dengler konzentriert sich, aber es dauert eine Weile, bis er es merkt. Die Kälber wanken und schwanken, ihr Gang ist unsicher und torkelnd. Auf der Rampe bricht das erste Tier auf den Vorderläufen zusammen. Ein zweites stürzt auf der Brücke. Die beiden Männer schlagen die Tiere. Das zweite Kalb springt wieder auf, aber das erste schafft es nicht. Einer der Männer packt es an den Hinterläufen und zieht es ins Innere des Gebäudes. Die Kamera ist nun ganz nah dabei. Der Bildschirm zeigt nun hochaufgelöst den Kopf des Kalbes, der auf dem Boden hin und her schlägt und zoomt dann auf die Augen, die vor Schrecken geweitet sind.
Plötzlich spricht Jakob. Hildegard fährt zusammen, als sie die Stimme ihres Sohnes hört. Olga hebt den Kopf.
»Diese Kälber wurden seit Wochen mit Futter ohne Eisengehalt ernährt. Jeder Körper braucht Eisen. Der Mensch ebenso wie diese Kälber. Eisen bildet rote Blutkörperchen. Doch rote Blutkörperchen färben das Fleisch rot, und diese armen Tiere sollen teures weißes Fleisch liefern. Rote Blutkörperchen dienen dem Transport von Sauerstoff in die Lungen und im Blutkreislauf. Bei einem Mangel an roten Blutkörperchen werden Menschen wie auch Kälber müde, schlapp und krank. Nur der Farbe ihres Fleisches wegen wird diesen Tieren eine künstliche Leukämie angefüttert.«
Jakobs Stimme klingt völlig ruhig und sachlich.
Die Kamera fährt von der Großaufnahme der Tiere zurück in die Totale. Der Fahrer steigt in den Lkw. Der Film bricht ab.
»Mein Gott, ist das entsetzlich«, sagt Hildegard.
»Die Kamera liefert gestochen scharfe Bilder. Sie hat ein exzellentes Zoom. Sie ist sicher sehr teuer. Hast du eine Ahnung, wo Jakob diese Kamera herhat?«
»Wie kannst du jetzt an die Kamera denken, bei diesen schrecklichen Bildern?«
»Die Kamera ist eine Spur. Vielleicht führt
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