Am zwölften Tag: Denglers siebter Fall (German Edition)
sie uns zu Jakob.« Dengler spürt, wie seine Backenknochen mahlen, auch wenn er versucht, äußerlich ruhig zu bleiben.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht gehört sie den Eltern eines seiner Freunde. Simons Vater hat ziemlich viel Kohle.«
Olga sagt: »Ich hab ein Backup der Festplatte gemacht. Es ist schon spät …«
»Hildegard, schreib mir bitte die Namen aller Freunde von Jakob auf. Wenn du sie kennst, bitte auch die Adressen. Ich brauche auch die Namen der Lehrer.«
Er sieht, dass Tränen in ihren Augen stehen.
»Ich werde Jakob finden.«
»Ich weiß«, sagt sie leise. »Hast du gewusst, dass Jakob solche Filme dreht?«
Dritter Tag
Dienstag, 21. Mai 2013
31. Stuttgart, Denglers Büro, nachts
Olga und Dengler sehen sich den Film noch einmal an. Aus Standbildern vergrößert Olga die Gesichter der beiden Männer und druckt die Bilder aus.
»Ich habe die Metadaten des Films«, sagt sie. »Er wurde im Herbst letzten Jahres aufgenommen, am 14. September, einem Freitag. Morgens kurz nach zehn Uhr. Die Koordinaten sind: 52° 51’ N, 8° 3’ O. Das ist irgendwo in Norddeutschland, der Ort heißt Cloppenburg. Nie gehört.«
Sie klappt den Laptop auf. Google Maps. Ist leicht zu finden, und es ist genau die Industrieanlage, die sie auf dem Film gesehen haben. Die Rampe ist gut zu erkennen. Ein Lkw davor, ein weiterer fährt gerade weg.
Dengler sieht sich den Aufkleber an, den er in Jakobs Schrank gefunden hat.
Dieses Fleisch stammt aus Massentierhaltung. Sie vergiften damit sich und Ihre Familie!
Was macht der Junge bloß für einen Unsinn. Dengler lehnt sich im Stuhl zurück und denkt nach. Jakob hat doch immer gern Fleisch gegessen. Er erinnert sich, dass er mit Jakob wieder einmal zu seiner Mutter nach Altglashütten gefahren war, das muss wohl, nun ja, zwei oder drei Jahre her sein. Er erinnert sich deshalb so gut an diesen speziellen Besuch, weil Jakob zum ersten Mal wollte, dass seine Oma diesmal kein Huhn schlachtete. Bisher war das Huhn, das die alte Frau Dengler zu Ehren ihres einzigen Enkels schlachtete, ein Ritual gewesen. Manchmal hatte Dengler ein Coq au Vin geschmort: Er hatte das Huhn zerlegt, enthäutet, es mit Möhren, Sellerie, Schalotten, Knoblauch angebraten, Riesling dazugegeben, das Ganze mit Zimt, zwei Chilis, Thymian und ein wenig Ingwer gewürzt. Zu dritt saßen sie am Abend zusammen, Jakob durfte so lange aufbleiben, bis er von selbst müde wurde und ins Bett ging; Dengler verstand das als einen Teil seiner Erziehung zur Freiheit. Es waren immer besondere Wochenenden gewesen, diese Reisen zur Oma. Jakob lief oft zum Birkelbauer, er kam aus den Ställen nur heraus, wenn Dengler ihn am Abend auf den Arm nahm und zu Großmutters Hof hinübertrug.
»Deine Gedanken! Du bist meilenweit weg … Komm mit mir«, sagt Olga.
Dengler nickt. Sie schalten die Lichter aus und gehen Arm in Arm eine Treppe höher in Olgas Wohnung.
32. Bad Teinach, Hotel Schröder, nachts
Vorsichtig hebt Christian Zemke den Arm. Hellgrün leuchten die Zeiger seiner Armbanduhr und verraten unbarmherzig, dass er wieder zur Nachtzeit wach liegt. Er weiß nicht, wie lange er schon in dem breiten, weichen Bett liegt und darauf wartet, endlich wieder einzuschlafen. Geduldig hört er die gleichmäßigen Atemzüge seiner Frau und beneidet sie um ihren tiefen Schlaf. Und um ihre Ahnungslosigkeit.
Vorsichtig schiebt er die Bettdecke zur Seite, stützt sich mit dem rechten Arm ab und stellt erst das rechte, dann das linke Bein auf den Boden. Eine Weile bleibt er so sitzen, bis er sicher ist, dass seine Frau weiter ruhig atmet. Dann steht er auf. Er reibt sich mit der rechten Hand über den Bauch, aber der Druck in der Magengegend bleibt. Auf Zehenspitzen geht er zum Schrank, zieht vorsichtig die Tür auf und nimmt seine Aktentasche aus dem untersten Regalfach.
Immer noch behutsam und leise geht er an den Schreibtisch, setzt sich, stellt die Tasche auf seinen Schoß und zieht den Aktenordner heraus, den der Steuerberater ihm mitgegeben hat.
»Lesen Sie alles in Ruhe durch«, hatte er ihm gesagt. »Der Vertrag liegt obenauf. Überlegen Sie sich die Sache gut. Schlafen Sie drüber.«
Zemke starrt das Papier an. »Treuhandvertrag« steht darüber. Mit einem kleinen Kreuz ist die Stelle gekennzeichnet, an der er unterschreiben soll. Doch dann wird er nur noch dem Namen nach Eigentümer seines Hofes sein. Er wird Angestellter sein auf dem Land seines Vaters. Und seines Großvaters.
Er hat’s
Weitere Kostenlose Bücher