Amanda Jaffe 01 - Die Hand des Dr Cardoni
überhaupt stattgefundene, Provokation durch das Opfer gewesen sei? Dieser Punkt war nur relevant in Fällen, bei denen es um Notwehrsituationen oder langfristigen Missbrauch ging. Doolings Opfer war entführt, tagelang als Geisel gehalten, systematisch vergewaltigt und schließlich ermordet worden. Es war also alles andere als schockierend, dass die Geschworenen Doolings Verhalten einstimmig als unangemessen klassifizierten.
Amanda und Mike Greene beugten sich vor, als Richterin Campbell die vierte Frage und die entsprechende Antwort vorlas. In den meisten Fällen war Frage vier die einzig wichtige. Die Frage »Sollte der Angeklagt zum Tode verurteilt werden?« gab dem Verteidiger die Möglichkeit, jedes Argument gegen die Todesstrafe vorzubringen, das mit Beweisen gestützt werden konnte. Amanda hatte Zeuge um Zeuge aufgeboten, die alle Timothy Dooling eine unvorstellbar entsetzliche Kindheit bestätigen, und sie hatte argumentiert, dass die Mutter, die ihm das Leben geschenkt hatte, ihn von Geburt an zu dem Monster gemacht hatte, das er schließlich geworden war. Wenn nur einer der zwölf Geschworenen ihrer Argumentation folgte, würde Tim Dooling am Leben bleiben.
»Auf Frage vier«, sagte Richterin Campbell, »haben die Geschworenen mit einem Stimmenverhältnis von drei zu neun geantwortet.«
Dooling saß stocksteif da. Auch Amanda rührte sich nicht. Erst als sie sah, dass der Staatsanwalt den Kopf senkte, wusste sie, dass sie drei Geschworene mit ihrer Argumentation, warum Doolings Leben erhaltenswert sei, überzeugt hatte.
»Haben wir gewonnen?«, fragte Timothy mit ungläubig aufgerissenen Augen.
»Wir haben gewonnen.«
»Das ist doch was«, sagte Tim grinsend. »Das ist das erste Mal in meinem ganzen Leben, dass ich was gewonnen habe.“
Um zehn Uhr dreißig kehrte Amanda erschöpft, aber voll Begeisterung, weil sie ihr erstes potenzielles Todesurteil abgeschmettert hatte, in ihren Loft zurück. Der Loft war ein gut hundert Quadratmeter großer offener Raum in einem ehemaligen Lagerhaus aus Backstein im Pearl District von Portland. Der Boden bestand aus Hartholzdielen, die Fenster waren riesig und die Decke sehr hoch. Im Erdgeschoss gab es zwei Kunstgalerien und in der Nähe gute Restaurants und Cafes. Wenn das Wetter mitspielte, konnte sie in fünfzehn Minuten zu Fuß zur Arbeit gehen.
Amanda hatte den Loft mit Möbeln und Gegenständen eingerichtet, die sie liebte. Ein feierlich düsteres Stillleben von Harry Sally, Birne in Zinnschüssel , das ein Monatsgehalt gekostet hatte, hing gegenüber einem fröhlich bunten abstrakten Gemälde von einem Künstler, den sie in einer der Galerien im Erdgeschoss kennen gelernt hatte. In einem Antiquitätengeschäft zwei Blocks entfernt hatte sie eine Anrichte aus Eichenholz entdeckt, ihr Esstisch dagegen stammte aus einer Schreinerwerkstatt an der Küste. Er bestand aus Planken, die der Handwerker von einem Fischkutter geborgen hatte, der im Sturm vor Newport auf Grund gelaufen war.
Amanda schaltete das Licht an und warf ihre Jacke auf die Couch. Sie war zu aufgeregt, um jetzt schon schlafen zu können, und zu abgelenkt, um fernzusehen. Also goss sie sich ein Glas Milch ein und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster, bevor sie sich in ihren Lieblingssessel fallen ließ.
Der Prozess gegen Tim Dooling war der erste Mordfall gewesen, den sie als federführende Anwältin vor Gericht vertreten hatte. Neun Monate lang hatte ein enormer Druck auf ihr gelastet. Sie war kaum darauf vorbereitet gewesen einen Fall zu bearbeiten, in dem ein einziger Fehler den Tod ihres Mandanten zur Folge hätte haben können. Als das Urteil verlesen wurde, hatte sie nicht die wahnsinnige Euphorie verspürt, die sie bei ihrem ersten PAC-10-Schwimmtitel erlebt hatte; sie hatte sich einfach erleichtert gefühlt, als hätte ihr jemand eine immense Last von den Schultern genommen.
Der Toaster bimmelte, und Amanda stemmte sich aus ihrem Sessel. Als sie den großen Raum durchquerte, fiel ihr auf, wie still es in ihrem Loft war. Amanda mochte das Alleinsein, aber an Abenden wie diesem hätte sie gern jemanden gehabt, mit dem sie den Triumph hätte teilen können. Seit sie nach Portland zurückgekehrt war, hatte sie ein paar Männer kennen gelernt. Sie hatte eine sechsmonatige Affäre mit einem Börsenmakler gehabt, die aber in beiderseitigem Einverständnis wieder eingeschlafen war, und eine längere Beziehung mit einem Anwalt aus einer der großen Kanzleien von Portland, der ihr sogar
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